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Wehrhafte Kooperation ist optimale Basis für langfristigen Erfolg

Axelrod, Robert (2000):

Die Evolution der Kooperation



Oldenbourg (München) 6. Aufl. 2005; 235 S.; 19,80 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 10 / 9

Rezensent: Winfried Berner, 26.12.2007

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Mit diesem äußerst lesenswerten Buch begründete Robert Axelrod 1984 seine "Kooperationstheorie", die mittlerweile zahlreiche fruchtbare Weiterentwicklungen gefunden hat. Sehr lehrreich und anregend sowohl für die Theorie als auch für die Praxis.

Von einem meiner Großonkel ist überliefert, er habe bei seiner Heimkehr aus dem Ersten Weltkrieg in schönstem Fränkisch gesagt: "De Franzos'n, de ich derschossn hab, de le'm alle noch!" Was ich lange für einen erstaunlichen pazifistischen Anflug in einer katholisch-konservativen Familie gehalten habe, rückt dieses Buch in ein gänzlich neues Licht: Der behutsame Umgang mit dem Feind war in den Gräben von Verdun offenbar ein Massenphänomen, das, mit dem Schimpfwort des "Fraternisierens" belegt, den Generalitäten beider Seiten größte Sorgen machte. Die jungen Männer beider Seiten fanden anscheinend keinen rechten Gefallen darin, erbittert um jeden Meter nutzlosen Geländes zu kämpfen und sich dabei gegenseitig totzuschießen und totschießen zu lassen. Wie gut dokumentierte Quellen belegen, entwickelte sich vielmehr unter dem Motto "Leben und leben lassen" ein unausgesprochener Nichtangriffspakt, der gegenüber den Oberkommandos durch ritualisierte, aber ungefährliche Kampfhandlungen kaschiert wurde. Zu festen Zeiten beschossen sie sich heftig, achteten aber sorgfältig darauf, dass dem bösen Feind kein wirklicher Schaden entstand. Nach Augenzeugenberichten ging das in Einzelfällen so weit, dass man sich bei versehentlichen Querschlägern entschuldigte und der Hoffnung Ausdruck gab, es möge niemand zu Schaden gekommen sein.

Diese Kooperation zwischen Feinden entwickelte sich nicht aus Mitgefühl mit den jungen Burschen der anderen Seite, sondern aus blankem Eigeninteresse. Axelrod zitiert einen britischen Soldaten mit den Worten: "Es wäre ein Kinderspiel, die mit Verpflegungswagen und Wasserkarren vollgestopfte Straße hinter den feindlichen Linien zu beschießen und in eine blutige Wüste zu verwandeln ... aber im großen und ganzen ist es ruhig. Wenn du deinen Feind daran hinderst, seine Verpflegung zu fassen, verfügt er schließlich über ein einfaches Mittel: Er wird dich daran hindern, deine zu bekommen." (S. 71) Dazu Axelrod: "Nachdem sie einmal entstanden waren, konnten Strategien, die auf Gegenseitigkeit beruhen, sich auf verschiedenen Wegen ausbreiten. Zurückhaltung, die während bestimmter Stunden geübt wurde, konnte auf weitere Stunden ausgedehnt werden. Eine bestimmte Art von Zurückhaltung konnte Anlass sein, es mit anderen Arten der Zurückhaltung zu versuchen. Vor allem konnten die in einem kleinen Frontabschnitt erzielten Fortschritte von den benachbarten Einheiten nachgeahmt werden." (S. 72) Die Leitidee dahinter nennt er das Echo-Prinzip: "Den anderen Unannehmlichkeiten zu bereiten, ist nur ein umständlicher Weg, sie sich selbst zu bereiten." (S. 76)

Aus dieser militärgeschichtlichen Begebenheit kann man viel über die Evolution der Kooperation lernen, und Axelrod nutzt sie denn auch, um wesentliche Erkenntnisse seiner Kooperationstheorie zu untermauern: Erstens, dass Eigennutz unter bestimmten Bedingungen in der Tat eine tragfähige Basis für eine stabile Kooperation sein kann. Zweitens, dass eine zentrale Bedingung hierfür ein Phänomen ist, das Axelrod den "Schatten der Zukunft" nennt: Das Wissen, dass der Feind umgehend die eigene Nachschublogistik zerstören würde, wenn man die seine angriffe. Wenn man das erstere als nicht wünschenswert ansieht, lässt man also besser das letztere. Drittens, dass Wehrhaftigkeit eine weitere wichtige Bedingung für stabile Kooperation ist: Nur unter der Bedingung, dass die andere Seite empfindlich "zurückschlagen" kann, empfiehlt sich kooperatives Verhalten – vor der Vergeltung eines schwachen Gegners muss man sich nicht fürchten. Viertens, dass eine gewisse Beziehungsstabilität Voraussetzung für Kooperation ist. das erklärt, weshalb es ausgerechnet an der Westfront "Fraternisierung" in großem Umfang gegeben hat, nicht aber in vielen anderen Kriegen, obwohl doch sämtliche Kriege die Gesundheit weit stärker gefährden als Rauchen: Gerade der Stellungskrieg verband das Schicksal beider Seiten längerfristig und sorgte dafür, das eine "gute Nachbarschaft" mit dem Feind im vitalen Interesse aller direkt Beteiligten lag.

Bevor Axelrod im seinem vierten Kapitel diese außergewöhnliche "War Story" berichtet, hat er dem Leser bereits eine sorgfältige Einführung in die zentrale Thematik seiner Forschung, die Entstehung von Kooperation, vermittelt: Unter welchen Bedingungen ist es für Akteure, die alle ihren eigenen Nutzen maximieren, ratsam, mit anderen Akteuren zu kooperieren? Als Ziel seiner Forschungsarbeit nennt er "die Entwicklung einer Theorie der Kooperation, mit deren Hilfe Faktoren aufgedeckt werden können, die für die Entstehung der Kooperation notwendig sind. Wenn man die Bedingungen ihrer Entstehung versteht, können in der Folge auch geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um die Entwicklung der Kooperation in einer bestimmten Situation zu fördern." (S. 5) Und: "Die Aufgabe besteht dann darin, die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Entstehung von Kooperation ausfindig zu machen." (S. 9)

Dieses Programm spiegelt sich in der Gliederung des Buchs, die nach der Einführung vier Teile mit jeweils zwei Kapiteln umfasst. Zunächst geht es natürlich um "Die Entstehung der Kooperation", die er mit einer Kombination von mathematischer Deduktion und einer groß angelegten Serie von Computersimulationen untersucht (wobei er freundlicherweise sowohl die Beweise der mathematischen Theoreme als auch die Einzelheiten der Simulationsexperimente in den Anhang ausgliedert). Dass für das Entstehen von Kooperation weder Sympathie noch bewusstes Kalkül erforderlich sind, belegt der Teil "Kooperation ohne Freundschaft oder Voraussicht", aus dem auch obige Fallstudie aus dem Ersten Weltkrieg stammt. Außerdem enthält dieser Teil ein Kapitel über "Die Evolution der Kooperation in biologischen Systemen", als dessen Koautor der renommierte britische Evolutionsbiologe William D. Hamilton (1936 – 2000) verantwortlich zeichnet. Der praxisorientierte Impetus Axelrods schlägt sich im folgenden Teil nieder, in den Kapiteln "Vorschläge für erfolgreiches Verhalten" und "Wie Kooperation gefördert werden kann". Um die "Schlussfolgerungen" geht es schließlich im letzten Teil; es enthält die beiden Kapitel "Die Sozialstruktur der Kooperation" und "Die Robustheit der Reziprozität". Den Abschluss bildet ein Nachwort, in dem die Soziologie-Professoren und Axelrod-Übersetzer Werner Raub und Thomas Voss eine "Verortung seiner Theorie der Kooperation innerhalb der Sozialtheorie" vornehmen und deren Anwendungsmöglichkeiten darstellen.

Das Basisexperiment der Spieltheorie, aus der Axelrods Kooperationstheorie hervorgegangen ist, ist das Gefangenendilemma. Es verdankt seine Bezeichnung der fiktiven Situation, dass zwei des Bankraubs Verdächtige verhaftet und getrennt vernommen werden. Wenn beide die Tat leugnen, können sie nur zu einer geringen Strafe wegen unerlaubten Waffenbesitzes verurteilt werden. Falls einer gesteht und der andere leugnet, kommt der Geständige als Kronzeuge straffrei davon, während der andere eine hohe Strafe erhält. Wenn beide gestehen, erhalten beide eine mittlere Strafe. Das Dilemma der Gefangenen lautet nun: Soll ich leugnen oder soll ich gestehen? Oder, allgemeiner formuliert: Soll ich mich ausschließlich an meinen eigenen Interesse orientieren oder soll ich auch auf das des Partners Rücksicht nehmen? Tut man letzteres, ist zwar das kumulierte Ergebnis optimal, aber nicht unbedingt das eigene – im Gegenteil: Wenn der eine Gefangene damit rechnen muss, dass der andere gesteht, dann ist es für ihn empfehlenswert, ebenfalls zu gestehen; je sicherer er aber davon ausgehen kann, dass der andere leugnen wird, desto verführerischer wird es für ihn, ebenfalls zu gestehen und straffrei auszugehen – jedenfalls sofern er seinem Komplizen nie wieder begegnet. Aus ökonomischer Sicht erscheint es daher rational, sich egoistisch zu verhalten. Und zwar für beide, sodass die Konsequenz eines beiderseits rationalen Verhaltens ein suboptimales Ergebnis für beide Beteiligte ist.

Dieses Gefangenendilemma ist zum Ausgangspunkt eines ausgesprochen fruchtbaren Forschungsfeldes mit vielerlei Verzweigungen geworden. Das mag zunächst befremdlich klingen, als ob die größte Sorge der Spieltheoretiker wäre, wie sie sich im Falle einer Verhaftung verhalten sollten. Aber das Dilemma bleibt das Gleiche, wenn man die Vorzeichen ins Positive verkehrt – etwa: Soll man einen Geschäftspartner übers Ohr hauen, oder soll man fair mit ihm umgehen? Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass das Gefangenendilemma ein Grundmuster formalisiert, das für unzählige Lebenssituationen charakteristisch ist: Kooperation hat für beide Seiten einen Nutzen (R = Reward), doch noch besser ist der Einzelne dran, wenn er sich egoistisch verhält, während der andere kooperiert (T = Temptation); allerdings zahlt der andere dann die Rechnung (S = Sucker's Payoff), was ihm vermutlich nicht gefallen wird. Falls sich aber beide egoistisch verhalten, ist das Ergebnis beider deutlich schlechter (P = Punishment) als wenn sie kooperiert hätten (R). Formal ergibt sich daraus die Rangfolge T > R > P > S. Sieht man einmal von der Formalisierung ab, ist das wahrscheinlich die häufigste Interessenkonstellation, die es im Leben gibt.

Spannend wird es, wenn das Gefangenendilemma mehrfach oder gar "unendlich lang" gespielt wird. Denn dann wäre ein kurzfristig egoistisches Verhalten sehr viel weniger rational, weil nur bei einem äußerst naiven Mitspieler damit zu rechnen ist, dass er sich mehrfach übers Ohr hauen lässt. Kurzfristig-egoistisches Verhalten scheint hier also wenig erfolgversprechend zu sein, bedingungslose Kooperation ebenfalls nicht. Aber was ist dann die beste Spielstrategie? Um dies herauszufinden, lud Axelrod Anfang der 80-er Jahre seine Kollegen ein, Strategien einzusenden, die er in einem Computerturnier sowohl gegeneinander als auch gegen einen Zufallsgenerator antreten ließ. Es siegte das einfachste aller 14 Programme, die von dem renommierten Friedens- und Konfliktforscher Anatol Rapaport (1911 – 2007) eingereichte Strategie TIT FOR TAT ("Wie du mir, so ich dir"). Dieses Programm besteht aus ganzen vier Zeilen; es beginnt mit einem kooperativen Zug und verhält sich ab dann so, wie sich der Gegenspieler im vorausgegangenen Zug verhalten hat. Bei der Suche nach den Erfolgsfaktoren stellt Axelrod fest, dass "weder die Fachrichtung seines Autors noch die Kürze – oder die Länge – eines Programms für den relativen Erfolg einer Regel verantwortlich sind." (S. 29) "Überraschenderweise gab es nur eine einzige Eigenschaft, mit der relativ erfolgreiche von erfolglosen Teilnehmern unterschieden werden können. Diese Eigenschaft besteht darin, freundlich zu sein, d.h. nicht als erster zu defektieren." (S. 29f.)

Nachdem die Ergebnisse der ersten Runde feststanden und die Auswertungen veröffentlicht waren, lud Axelrod zu einem zweiten Turnier, an dem sich diesmal 62 Teilnehmer aus sechs Ländern beteiligten. Erneut siegte TIT FOR TAT: "Obwohl alle Teilnehmer der zweiten Runde wussten, dass TIT FOR TAT die erste Runde gewonnen hatte, war niemand in der Lage, einen besseren Konkurrenten zu entwickeln." (S. 37) Spannend ist Axelrods Analyse: "Wie in der ersten Runde lohnte es sich, freundlich zu sein. Als erster zu defektieren, war meistens ziemlich kostspielig. (...) Es gab mehrere Regeln der zweiten Runde, die absichtlich eine begrenzte Zahl von Defektionen einsetzten, um zu prüfen, was sie sich alles erlauben konnten. Die Rangfolge unter den freundlichen Regeln hing in großem Ausmaß davon ab, wie sie mit solchen Herausforderungen zurechtkamen." (S. 39) Mit anderen Worten, die hinterlistigen Strategien hatten zwar keine Chance auf den Sieg, aber sie wurden zu den Königsmachern: "Ebenso wie es sich auszahlt, freundlich zu sein, zahlt es sich aus, zurückzuschlagen." (S. 41)

Angeregt durch die moderne Evolutionsbiologie führte Axelrod sodann eine ökologische Simulation mit den Strategien der zweiten Runde durch, und zwar auf Basis der Annahme, "dass die erfolgreicheren Regeln in der nächsten Runde mit größerer und die weniger erfolgreichen mit geringerer Wahrscheinlichkeit erneut angewendet werden. Um das zu präzisieren, setzen wir voraus, dass die Anzahl der Kopien (oder Nachkommen) einer Regel ihrer Punktzahl in dem Turnier proportional ist." (S. 44) "Dieser Prozess simuliert das Überleben des Tüchtigsten. Eine Regel, die bei einer gegebenen Verteilung von Regeln in der Population im Schnitt erfolgreich ist, bildet in der nächsten Generation einen größeren Teil der Umgebung für andere Regeln. Zunächst wird sich eine Regel vermehren, die mit allen Arten von Regeln erfolgreich umgeht, doch wenn späterhin erfolglose Regeln verschwinden, ist für den Erfolg gute Leistung gegenüber anderen erfolgreichen Regeln erforderlich." (S. 45) Das heißt praktisch, dass sich das "ökologische Umfeld" über die Zeit verändert. Was unter anderem zur Folge hat, dass ausbeuterische Regeln verschwinden, sobald sie ihre Opfer ausgerottet haben.

Auch in dieser Konstellation siegte TIT FOR TAT, was Axelrod so kommentiert: "Was den robusten Erfolg von TIT FOR TAT erklärt, ist die Kombination, freundlich zu sein, zurückzuschlagen, Nachsicht zu üben und verständlich zu sein. Freundlichkeit schützt vor überflüssigen Scherereien, Zurückschlagen hält die andere Seite nach einer versuchten Defektion davon ab, diese unbeirrt fortzusetzen. Nachsicht ist hilfreich bei der Wiederherstellung wechselseitiger Kooperation. Schließlich erleichtert Verständlichkeit die Identifikation und löst dadurch langfristige Kooperation aus." (S. 48)

Nachdem Axelrod im vierten Kapitel die eingangs berichtete Kooperation mit dem Feind im Ersten Weltkrieg untersucht hat, kommt der im fünften zu einem völlig anderen Anwendungsgebiet: Gemeinsam mit dem Evolutionsbiologen William D. Hamilton beschreibt er "Die Entwicklung von Kooperation in biologischen Systemen". Spannend daran ist, "dass Voraussicht für die Evolution der Kooperation nicht notwendig ist" (S. 80): Es genügt völlig, dass sich über Mutation und Selektion die Genvarianten durchsetzen, die zu kooperativem Verhalten anleiten und davon profitieren. Infolgedessen gibt es Kooperation auch bei Vögeln, Fischen, Insekten und selbst bei Bakterien und Viren, ja es gibt sogar Kooperation zwischen Pflanzen sowie zwischen Pflanzen und Tieren, wie etwa, wenn eine Pflanze nur von einer einzigen Insektenart bestäubt werden kann, die ihrerseits von dieser Pflanze lebt. Mit einem Anflug von Erstaunen stellen Axelrod und Hamilton fest, wie viele biologische Phänomene sich mit diesem Ansatz erklären lassen: "Überraschenderweise fügt sich ein breites Spektrum biologischer Realität in diesen spieltheoretischen Ansatz ein." (S. 84)

Eine enorme Erweiterung des Ansatzes sowohl innerhalb als auch außerhalb der Biologie stellt die Feststellung dar: "Es wird nicht angenommen, dass die Auszahlungen der beiden Seiten vergleichbar sind. Unter der Voraussetzung, dass die Auszahlungen jeder Seite die Ungleichungen erfüllen, die gemäß Kapitel 1 ein Gefangenendilemma definieren, sind die Ergebnisse anwendbar." (S. 86) Das bedeutet, dass eine fruchtbare Zusammenarbeit prinzipiell zwischen allen Lebewesen möglich ist, sofern jedes davon langfristig mehr profitiert als von der kurzfristigen Optimierung seiner eigenen Interessen. So ist es zum Beispiel möglich, dass Putzerfische in das Maul von Raubfischen hineinschwimmen und die Parasiten in ihren Kiemen fressen. Zwar wäre es für die Raubfische ein Leichtes, sich die Putzerfische bei dieser Gelegenheit einzuverleiben, doch die Aussicht auf regelmäßige Befreiung von Parasiten ist ihnen offenbar mehr wert. Trotz sehr unterschiedlicher "Auszahlungen" veranlasst der "Schatten der Zukunft" beide Seiten zur Kooperation. Auch in der Biologie gilt aber, dass die sich kurzfristige Interessen in den Vordergrund schieben, sofern – zum Beispiel wegen einer angegriffenen Gesundheit – keine dauerhafte Kooperation zu erwarten ist. In diesem Fall kommt es nicht selten zu einem "Wechsel vom Mutualismus zum Parasitismus" (S. 93), und "es ist denkbar, dass diese Überlegung auch eine gewisse Bedeutung im Hinblick auf Krebsursachen hat" (S. 93) – eine interessante Spekulation, welche die Autoren auch auf multiple Infektionen erweitern.

Zurück zum menschlichen Handeln kommt Axelrod in Kapitel 6, das vier "Vorschläge für ein erfolgreiches Verhalten" macht. Denn: "Obwohl Voraussicht für die Evolution der Kooperation nicht notwendig ist, kann sie zweifellos nützlich sein." (S. 99) Seine Empfehlungen lauten schlicht: "1. Sei nicht neidisch" (weil der Versuch, den Gegenspieler zu übertölpeln oder verlorenen Boden wieder gutzumachen, leicht in Spirale gegenseitiger Bestrafungen mündet); "2. Defektiere nicht als erster" (weil negative Antworten wahrscheinlich sind); "3. Erwidere sowohl Kooperation als auch Defektion" (weil nur dann für den Gegenspieler ein verlässlicher Anreiz zur Kooperation besteht); und "4. Sei nicht zu raffiniert" (weil die beste Strategie nichts nützt, wenn sie der Gegenspieler nicht versteht und ihre Konsequenzen daher nicht abschätzen kann). Der letzte Punkt ist besonders interessant: Im Gegensatz zu Nullsummenspielen ist es beim Gefangenendilemma, einem Nicht-Nullsummenspiel, von Vorteil, für den Gegner berechenbar zu sein. Denn wel hier beide von einer Kooperation profitieren würden, ist es nützlich, wenn für den Partner transparent ist, unter welchen Bedingungen man sich kooperativ verhalten wird: "Der Trick besteht darin, ihn zu dieser Kooperation zu ermutigen." (S. 111)

Die Perspektive eines Reformers nimmt das siebte Kapitel ein. Es fragt danach, "wie die strategischen Gegebenheiten selbst verändert werden können, um die Kooperation der Spieler zu fördern." (S. 112) Aus dieser Perspektive geht es vor allem darum, welche Gründe einen Egoisten dazu veranlassen könnten, "trotz eines kurzfristigen Anreizes zur Nichtkooperation zu kooperieren." (S. 112) Da der wichtigste Anreiz zur Kooperation in den attraktiveren Auszahlungen künftiger Spiele sind, lautet die erste seiner fünf Empfehlungen: "Erweitere den Schatten der Zukunft" (S. 113). Das kann auf zwei Arten erreicht werden: "Man kann Interaktionen dauerhafter machen, und man kann sie häufiger stattfinden lassen." (S. 116) Ersteres wird durch jede Art von Institutionalisierung erreicht – von einer Heirat oder Vereinsgründung im Privaten bis zu gemeinsamen Firmengründungen, Joint Ventures, wechselseitigen Beteiligungen und Keiretsus in der Wirtschaft. Letzteres lässt sich zum Beispiel durch Sesshaftigkeit (Territorialität) erreichen, aber auch durch Spezialisierung. In beiden Fällen sinkt zwar die absolute Häufigkeit der Interaktionspartner, aber die Häufigkeit der Interaktion mit den verbliebenen nimmt zu. Den gleichen Effekt haben hierarchische Strukturen – ein überraschender (Neben?)Effekt der Hierarchie. Ein weiteres Instrument zur Verstärkung des Schattens der Zukunft ist die "Aufspaltung des Verhandlungsgegenstands in kleine Stücke" (S. 118). Denn wo viele kleine Spielzüge statt weniger großer gespielt werden, ist der relative Nutzen einer Defektion deutlich reduziert.

"Ändere die Auszahlungen", lautet Axelrods zweite Reformempfehlung (S. 119). Und er stellt fest, dass der Gesetzgeber an vielen Stellen genau diese Funktion übernimmt: "Größere Änderungen der Auszahlungsstruktur können die Interaktionen so transformieren, dass es gar nicht mehr ein Gefangenendilemma ist. Wenn die Bestrafung für Defektion so groß ist, dass Kooperation unabhängig vom Verhalten des anderen Spielers die beste Entscheidung auf kurze Sicht wird, dann gibt es kein Dilemma mehr. Die Transformation der Auszahlungen muss jedoch nicht ganz so drastisch ausfallen, um erfolgreich zu sein. Selbst eine relativ kleine Transformation der Auszahlungen kann zur Stabilisierung reziproker Kooperation beitragen." (S. 120)

Die übrigen drei Empfehlungen sind pädagogischer Natur: "3. Unterweise die Menschen, sich umeinander zu kümmern"; "4. Unterweise in Sachen Reziprozität" und "5. Verbessere die Erinnerungsfähigkeit". Vor allem bei den beiden ersten reibt man sich verwundert die Augen, lugt hier doch plötzlich und unerwartet das Thema Werteerziehung um die Ecke: "Altruismus kann unter Menschen durch Sozialisation aufrechterhalten werden. Aber es gibt dabei ein ernsthaftes Problem. Ein selbstsüchtiges Individuum kann die Vorteile des altruistischen Verhaltens eines anderen genießen, ohne die Kosten an Wohlstandsverlust zu zahlen, die aus eigener Großzügigkeit entstehen. Wir haben alle schlechterzogene Leute kennengelernt, die von anderen Rücksicht und Großzügigkeit erwarten, aber nicht an andere als die eigenen Bedürfnisse denken. Solche Leute bedürfen einer anderen Behandlung als die Rücksichtsvollen, wollen wir nicht ausgebeutet werden. Diese Überlegung legt es nahe, dass die Kosten des Altruismus kontrolliert werden können, wenn man sich zu jedem anfangs altruistisch verhält, und danach nur zu denen, die ähnliche Gefühle zeigen. Dies führt aber schnell zurück zur Gegenseitigkeit als Grundlage der Kooperation." (S. 121f.) Genau deshalb ist "Reziprozität eine bessere Grundlage für Moralität als unbedingte Kooperation. (...) Es hilft in Wirklichkeit nicht nur uns selbst, sondern auch anderen, wenn es Ausbeutungsstrategien schwer gemacht wird, zu überleben." (S. 122) Was wiederum eine ausreichend gute individuelle und kollektive Erinnerung an das Handeln der einzelnen Spieler in der Vergangenheit voraussetzt – daher die fünfte Empfehlung.

Kapitel 8 "Die Sozialstruktur der Kooperation" widmet sich vier speziellen Mechanismen, die erheblich beeinflussen können, wie und zu welchem Ergebnis sich Kooperation entwickelt: Etikettierungen, Reputation, Vorschriften und Territorialität. "Eine Etikettierung ist ein unveränderliches Merkmal eines Spielers, z.B. sein Geschlecht oder seine Hautfarbe, das vom anderen Spieler beobachtet werden kann. Sie kann stabile Arten von Stereotypen und Statushierarchien hervorrufen." (S. 131) Prinzipiell kann jedes erkennbare Merkmal zur Unterscheidung in eine Wir- und eine Die-Gruppe genutzt werden, die man nach unterschiedlichen Regeln behandelt. In Windeseile kann so eine diskriminierte Minderheit entstehen: "Während beide Gruppen für das Fehlen wechselseitiger Kooperation bezahlen müssen, erleiden in diesem Fall die Angehörigen der Minorität den größeren Schaden." (S. 133) Und zwar ohne dass sie sich aus dieser Lage befreien können: "Eine Person am Ende der Hierarchie befindet sich also in der Falle. Sie schneidet schlecht ab, würde aber durch die Auflehnung gegen das System noch schlechter gestellt." (S. 135)

Mit Reputation ist der gute oder schlechte Ruf gemeint, der einem Spieler vorausgeht. Er beeinflusst die Erwartungen, die die andere Mitspieler im Bezug auf sein Kooperationsverhalten entwickeln, und damit ihre Strategie ihm gegenüber. Ideal ist es, im Ruf zu stehen, kooperativ zu sein, aber nicht ausbeutbar – was unversehens zu Themen wie der militärischen Abschreckung führt. – Auch das Verhältnis von Regierung und Regierten lässt sich als ein Gefangenendilemma begreifen: "Selbst die stärkste Regierung ist nicht in der Lage, die Einhaltung einer jeden Regel zu erzwingen. Um erfolgreich zu sein, muss Konformität bei der Mehrheit der Regierten sichergestellt werden. Um das zu erreichen, müssen Regeln so gewählt werden, dass es sich für die meisten auszahlt, die Regeln meistens zu befolgen." (S. 140) Am Beispiel Umweltschutz macht Axelrod deutlich, dass Regierungskunst darin besteht, einerseits ausreichend wirksame Regelungen festzulegen, andererseits den Bogen nicht zu überspannen, weil sonst die Akzeptanz der Regierten wegbricht.

Überraschende Auswirkungen hat schließlich Territorialität, weil sie dazu führt, dass nicht mehr alle Spieler mit gleicher Wahrscheinlichkeit aufeinander treffen, sondern jeder bevorzugt mit seinen Nachbarn interagiert. Die Nachbarschaft kann dabei nicht nur eine räumliche sein, sondern auch eine soziale, etwa in Gestalt von Branchenkollegen, Hobbypartnern oder Parteifreunden. Wenn man unter territorialen Bedingungen eine "ökologische" Computersimulation durchführt, bei der erfolglosere Spieler die Regeln der erfolgreicheren Nachbarn übernehmen, entsteht der unerwartete Effekt, dass sich nicht eine einheitliche Erfolgsformel wie TIT FOR TAT durchsetzt, sondern dass zwar manche erfolglose Regeln rasch aussterben, dass dabei aber Inseln entstehen, deren Grenzen von Regeln gebildet werden, die mit mehreren erfolgreichen Nachbarn gut zurechtkommen.

Im letzten Kapitel "Die Robustheit der Kooperation" fasst Axelrod noch einmal die wesentlichen Aussagen seiner Theorie der Kooperation zusammen. Das bringt mancherlei Redundanzen mit dem Vorausgegangenen, aber auch manche Präzisierungen und dazu einige neue Erkenntnisse und Ableitungen. So stellt er gewissermaßen "nebenbei" mit wenigen Sätzen unser landläufiges Verständnis zur Bedeutung des Vertrauens in beruflichen und privaten Beziehungen auf den Kopf: "Die Grundlage der Kooperation ist in Wirklichkeit nicht Vertrauen, sondern Dauerhaftigkeit der Beziehung. Wenn die geeigneten Bedingungen gegeben sind, können die Spieler gegenseitige Kooperation erreichen, indem sie durch Versuch und Irrtum Möglichkeiten wechselseitiger Belohnungen kennenlernen, andere erfolgreiche Spieler imitieren oder sogar durch einen blinden Prozess der Selektion erfolgreicher Strategien und der Aussonderung der weniger erfolgreichen. Es ist langfristig weniger wichtig, dass die Spieler einander vertrauen, als dass die Bedingungen für sie günstig sind, ein stabiles Muster der Kooperation untereinander ausbilden zu können." (S. 164) Das liefert eine überraschende Erklärung für das Phänomen, dass zum Beispiel das Vertrauen der Mitarbeiter in ihren Vorgesetzten – oft zu dessen großer Enttäuschung – auch nach einer langjährigen guten Zusammenarbeit zusammenbricht, wenn sich etwa aufgrund einer Umstrukturierung die Verhältnisse stark verändern: Möglicherweise ahnen sie einfach, dass ihnen der "Schatten der Zukunft" unter diesen veränderten Bedingungen keinen Schutz mehr bietet.

Eine andere wichtige Lehre aus diesem Kapitel ist, dass es ratsam ist, auf eine Provokation schnell und deutlich zu antworten. Gutmütiges Abwarten oder vorsichtiges Zaudern kann leicht als Signal für mangelnde Wehrhaftigkeit und damit als Einladung zu weiteren Übergriffen verstanden werden: "Je länger Defektion ungestraft geduldet wird, umso wahrscheinlicher zieht der andere Spieler den Schluss, dass Defektion sich auszahlen kann. Je stärker sich dieses Muster ausgebildet hat, umso schwieriger ist es aufzubrechen. Daher ist es besser, eher früher als später provoziert zu werden." (S. 167) Und noch mehr: "Damit eine freundliche Regel einer Invasion widerstehen kann, muss die Regel durch die allererste Defektion des anderen Spielers provoziert werden." (S. 167) Spannend auch, was Axelrod zu der empfehlenswerten Stärke der Vergeltung und der Gefahr einer Negativspirale schreibt: "Die Antwort darf nicht zu heftig sein, damit sie nicht zu einem endlosen Echo von Defektionen führt." (S. 168) Daher "würde in vielen Fällen die Stabilität der Kooperation verstärkt, wenn die Reaktion etwas geringer ausfiele als die Provokation. Anderenfalls wäre es zu leicht möglich, in endlose Reaktionen auf die letzte Defektion des jeweils anderen zu verfallen." (S. 169)

Bemerkenswert, dass dieses wohltuend sachliche und nüchterne Buch in ein beinahe ethisches Resümee mündet: "Sobald einmal erkannt ist, dass das Prinzip der Gegenseitigkeit funktioniert, wird es zur Verhaltensmaxime. Wenn Sie von anderen erwarten, dass sie Ihre Defektion ebenso wie Ihre Kooperation erwidern, dann sind sie gut beraten, keinen Ärger zu beginnen. Darüber hinaus sind Sie gut beraten zu defektieren, nachdem jemand anders defektiert hat, um zu zeigen, dass Sie sich nicht ausbeuten lassen. Folglich sollten Sie eine Strategie verwenden, die auf Gegenseitigkeit beruht. Da dies auch für jeden anderen gilt, bekommt die Wertschätzung von Gegenseitigkeit einen selbsttragenden Charakter. Sobald sie in Gang kommt, wird sie stärker und stärker." (S. 170) Die Schlussfolgerung von Axelrods ausgesprochen empfehlenswertem Buch könnte man durchaus zum Lebensmotto wählen: "Der Schlüssel zum Erfolg liegt nicht darin, andere zu bezwingen, sondern, sie zur Kooperation zu ermuntern." (S. 171)

Schlagworte:
Spieltheorie, Kooperationstheorie, Zusammenarbeit, Kooperation, Wettbewerb, Egoismus, Unternehmenskultur, Kulturveränderung

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