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Rezensionen

Der lange Marsch vom Hominoiden bis zur Sesshaftigkeit

Facchini, Fiorenzo (2006):

Die Ursprünge der Menschheit



Theiss (Stuttgart); 240 S.; 39,90 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 7 / 7

Rezensent: Winfried Berner, 13.02.2007

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Ein aufwändiger, attraktiver Bildband über den 3 Millionen Jahre langen Weg der Menschheit von ihren ersten Frühformen als Hominoiden bis zur Sesshaftwerdung vor etwa 10.000 Jahren. Eindrucksvolle Bilder, doch leider bleibt der Text oft etwas vage.

Gibt es einen Grund, weshalb sich (Change) Manager mit dem Thema Menschheitsgeschichte befassen sollten? Vielleicht einen stärkeren als uns bewusst ist. Denn auch wenn es uns schwer fällt, uns völlig andere Lebensumstände vorzustellen als unsere heutigen, ist das Industriezeitalter nur ein unglaublich kurzer Abschnitt der Menschheitsgeschichte. Wenn wir die Ursprünge unserer heutigen Zivilisation grob vor 6000 Jahren in Mesopotamien lokalisieren und die Industrialisierung vor etwa 300 Jahren, dann sind dies eben mal die jüngsten zwei Tausendstel bzw. ein Zehntausendstel der Menschheitsgeschichte. Es ist daher anzunehmen, dass in unserer Hard- und Software noch viel von dem Erbe aus jenen früheren Zeiten steckt und unmerklich unser Denken und Handeln beeinflusst. Zwar lässt sich aus dem Rückblick in die Menschheitsgeschichte nicht ableiten, wie wir heute leben sollten, aber er kann Hinweise darauf liefern, auf welche Lebensformen unsere Reaktionsmuster, Intuitionen und Verhaltenstendenzen ursprünglich zugeschnitten sind.

Der vorliegende großformatige und reich bebilderte Band bietet sich da als attraktive Quelle an. Er stammt aus dem renommierten Stuttgarter Theiss Verlag, der für seine fachlich wie editorisch hochwertigen Bildbände zu archäologischen und historischen Themen bekannt ist. Autor dieses Bands ist Fiorenzo Facchini, ein Professor für Anthropologie an der Universität Bologna, der auf dem Cover als "international bekannter Experte" und Verfasser von "über 300 Publikationen zu dem Thema" vorgestellt wird. Mustergültig gelungen ist die Gliederung des Bandes: Während viele Bildbände zerfallen in einen attraktiven Bildteil und einen langatmigen Text, den kaum jemand liest, ist "Die Ursprünge der Menschheit" gegliedert in, wenn ich richtig gezählt habe, 54 kurze Kapitel zu je zwei bis vier Seiten, die Text und Illustrationen in einen engen Zusammenhang bringen. Weniger begeistert bin ich von dem Text selber: Ihm ist oft nur schwer eine klare Kernaussage zu entlocken. Oft fragte ich mich nach ein paar Seiten ratlos: "Und was habe ich jetzt eigentlich gelernt?"

In Ermangelung anderer Quellen sind die Paläontologen auf das wenige angewiesen, was der Zahn der Zeit nach vielen Jahrtausenden übriggelassen hat: Versteinerungen. Über weite Strecken besteht dieses Buch denn auch aus der Interpretation von versteinerten Knochen und vor allem Schädelresten, die in großformatigen Fotos sorgfältig dokumentiert sind. Erst spät kommen bearbeitete Steine ( Steinzeit) und Höhlenmalereien hinzu. Erst auf Seite 210 (von netto 233) werden "Die ersten Dörfer, Städte und Bewässerungsanlagen" beschrieben. Zeitlich datieren sie zwischen 8350 und 3650 v.Chr.; die frühesten Formen der Sesshaftwerdung werden um 12.500 bis 10.000 angesiedelt: Das sind die berühmten "letzten fünf Minuten" in der auf einen Tag umgerechneten Menschheitsgeschichte. Die Sesshaftwerdung war insofern eine wichtige Zäsur, als sie der Kulturentwicklung einen ungeheuren Schub gab. Aber genau hier, wo es richtig spannend würde, endet der Band.

Wie schwer es für Paläontologen und vor allem Paläoanthropologen sein muss, sich ihren Funden rein phänomenologisch zu nähern und sich jeglicher Projektion eigener Überzeugungen in die Forschungsbefunde zu enthalten, zeigt exemplarisch die Passage, in der Facchini schreibt: "Religiosität ist dem Menschen angeboren und findet sich bei allen Völkern. (...) Die Idee des 'Heiligen' wird inspiriert durch die Wahrnehmung von etwas, das über dem Menschen steht und gegenüber dem er sich machtlos fühlt oder dessen Wesen er nicht kennt. Die Notwendigkeit eines Sinns für die eigene Existenz, eines Zufluchtsortes und einer Hoffnung, vor allem in Angstmomenten oder in Anbetracht des Todes, ruft Religiosität hervor." (S. 222) Das mag man teilen oder nicht; die Frage bleibt: Woher weiß er das? Aus welchen Befunden leitet er diese weitreichenden Aussagen über das Wesen des Menschen ab? Welche zwingenden Beweise kann er für sie vorlegen?

Vermutlich erfahren wir aus diesen Passagen mehr über den Menschen Fiorenzo Facchini als über den Stand seiner Wissenschaft. Das mag man sympathisch finden oder unprofessionell, es macht das Grundproblem einer Wissenschaft deutlich, die vor der Notwendigkeit steht, das Beste aus einer sehr limitierten Quellenlage zu machen – und dabei ständig in der Gefahr ist, die Aussagekraft ihrer Befunde zu überreizen. Facchini rudert denn auch wenige Sätze später zurück: "Direkte Zeugnisse für Religiosität liegen allerdings erst aus den letzten 100 000 Jahren vor, meist in Form von Bestattungen. Für die lange Zeit davor können wir nur indirekt argumentieren, indem wir die Abstraktionsfähigkeiten des Menschen sowie die möglichen Rituale an Tier- und Menschenknochen in enger Verbindung mit seiner Religiosität sehen." (S. 222) Was dem Eingeständnis gleichkommt, dass es sich bei seinen Aussagen hauptsächlich um Deutungen, Interpretationen und Spekulationen handelt. Wie wichtig ihm, dem Wissenschaftler, der Bezug zur Religion ist, zeigt sich auch darin, dass er in seinem Schlusskapitel ausführlich – und mit spürbarer Erleichterung – auf die Erklärung von Johannes Paul II. zur Vereinbarkeit von Evolutionslehre und christlichem Glauben eingeht.

Wenig Gewissheit verbreitet Facchini hingegen im Kapitel "Konkurrenz und Kooperation". Etwas pauschal stellt er in einem entschiedenen Einerseits-Andererseits die unterschiedlichsten Autoritäten von Lorenz bis Kropotkin (!) gegenüber und resümiert: "Welche der beiden Haltungen für die Entwicklung des Menschen wichtiger war und, mehr noch, wie viel biologisch Begründetes und kulturell Geprägtes in diesen Einstellungen wirkt, ist ein für Hypothesen und Interpretationen offenes Feld." (S. 227) Ganz so offen, wie er es hier darstellt, ist die Lage auf diesem Gebiet freilich längst nicht mehr. Aber vielleicht endet hier einfach die Zuständigkeit der Paläoanthropologie, und es beginnen die Jagdreviere von biologischer Anthropologie, Soziobiologie und Psychologie, die sich mit anderen als archäologischen Methoden der Frage nähern können, welche Verhaltenstendenzen bei uns Menschen verankert sind und weshalb bzw. unter welchen Lebensumständen sie Fitness-förderlich waren.

Immerhin macht Facchini hierzu noch eine wichtige Feststellung: "Die Lagerplätze des Homo erectus, die uns durch fossile Funde bekannt sind, deuten darauf hin, dass sie relativ kleinen Gruppen (von 15 bis 20 Individuen) als Heimstatt dienten." (S. 227) Die Gruppengröße stellt ja höchstwahrscheinlich ein Optimum zwischen verschiedenen Faktoren dar – insbesondere dem Nahrungsangebot der Umgebung (das zu große Gruppen durch lange Wege bestraft), jagdlichen Erfordernissen (die zu kleinen und zu großen Gruppen Nachteile bringen) und der Fähigkeit zur Verteidigung gegen tierische und menschliche Angriffe. Vermutlich war es für Jäger und Sammler vorteilhafter, bei Bedrohungen aus dem Feld zu gehen als ihr Territorium zu verteidigen. Erst nach der Sesshaftwerdung war es wegen der investierten Vorleistungen attraktiver, sein Territorium zu verteidigen – was größeren Gruppen Vorteile gebracht haben dürfte. Und so war wohl auch hier die agrarische Revolution der entscheidende Wendepunkt: Nicht nur als ein gewaltiger Beschleuniger der kulturellen Entwicklung, sondern wohl auch der Startpunkt einer weiteren neuen Errungenschaft: des Krieges.

Was kann man für unser heutiges Leben aus solch einem Buch lernen? Die wichtigste Erkenntnis ist in meinen Augen eine Relativierung unserer heutigen Lebensform. Durch blanken Zufall hat uns das Leben gerade an diesen Schnittpunkt zwischen einer unendlich langen Vergangenheit, die wir kaum kennen, und einer Zukunft, über die wir noch weniger wissen, gespült. Wie wichtig sind aus so einer Perspektive die Dinge, die unsere Epoche so wichtig nimmt: Geld und materielle Besitzstände? Wie wichtig ist es, an die Spitze zu kommen? Vor diesem Hintergrund betrachtet, ist es vielleicht wichtiger, sein eigenes Leben zu leben – und unsere Welt in einem Zustand zu hinterlassen, der sie wenigstens noch für einige Generationen lebenswert erhält. Aber wahrscheinlich ist dies, wie zuvor bei Facchinis Gedanken zum Thema Religion, mehr eine Aussage über mich und meine derzeitigen Prioritäten als über dieses Buch ... Wie auch immer: Den Impuls zum Nachdenken über die eigenen Ziele und Werte "sub specie aeternitatis" kann es allemal liefern.

Schlagworte:
Anthropologie, Paläoanthropologie, Menschheitsgeschichte

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