Die Umsetzungsberatung

Rezensionen

Engagierter Anstoß zu mehr Gemeinschaftsleben

Saiger, Helmut (2010):

Kontakte statt Kulisse

Miteinander gut leben statt nur viel haben

Saiger (Freiburg); 179 S.; 12,80 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 7 / 8

Rezensent: Winfried Berner, 09.11.2010

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Trotz vieler anfechtbarer Details ein sehr engagierter und nützlicher Impuls, die Prioritäten des eigenen Lebens zu überdenken: Weniger Besitz, Karriere und Status, mehr Gemeinschaft, das heißt mehr befriedigende soziale Beziehungen.

Vor knapp 100 Jahren hat Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit als elementares menschliches Grundbedürfnis beschrieben. Und er hat darauf sein Konstrukt des "Gemeinschaftsgefühls" aufgebaut, eines Gefühls von (Mit-)Verantwortung für das soziale System, dem man angehört, welches sich in der tätigen Bereitschaft äußert, seinen Beitrag zum Erhalt und der Weiterentwicklung dieser Gemeinschaft zu leisten. Offenbar ohne diese individualpsychologischen Gedanken und Konzepte zu kennen, entdeckt der Freiburger "Zukunftsforscher, Berater und Autor" (Klappentext) Helmut Saiger das Zugehörigkeits- und das Gemeinschaftsgefühl in diesem Buch neu und artikuliert sie in der Sprache unserer Zeit.

Bedarf dafür besteht. Denn obwohl wir in einem historisch ungekannten Wohlstand leben, nutzen die meisten von uns diesen Wohlstand nicht, um sich und anderen ein gutes Leben zu machen. Stattdessen verbringen sie den Großteil ihrer wachen Zeit mit Arbeit, Konsum und Geschäftigkeit. Und setzen dabei seltsame Prioritäten, wie der amerikanische Komiker Danny Kaye treffend beobachtet hat: "Wir verschwenden Geld, das wir nicht haben, für Dinge, die wir nicht brauchen, um Leuten zu imponieren, die wir nicht mögen." Das ist zwar auch eine Art von sozialer Aktivität, aber in der Regel keine sehr befriedigende. Völlig zu Recht fragt Saiger daher, ob wir nicht zufriedener wären, wenn wir Arbeit und Konsum etwas zurückfahren und dafür mehr Zeit für die Pflege sozialer Beziehungen verwendeten.  

Das Problem ist nur: Im menschlichen – und speziell männlichen – Leben geht es nicht nur um Zugehörigkeit, sondern auch um Status: um Einkommen, gesellschaftliche Position, Statussymbole. Denn für die soziale (und speziell weibliche) Anerkennung macht es halt einen Unterschied, ob man erfolgreicher Unternehmer ist oder Sozialhilfeempfänger. Und eine zentrale Strategie des Statuserwerbs ist nun einmal Arbeit. Wer es versäumt hat, reich zu erben, und nicht skrupellos genug ist, sich seinen Wohlstand mit kriminellen Mitteln zu erwerben, dem bleibt im Grunde nur die Erwerbsarbeit. Es ist also durchaus keine grundsätzliche Fehlorientierung, wenn Menschen erhebliche Zeit und Kraft in den Erwerb von sozialem Status investieren. Was implizit auch Saiger anerkennt, denn er spricht nicht, wie Erich Fromm, von Haben oder Sein, sondern von einer Qualität, die zum "Haben" hinzukommen soll: "Miteinander gut leben statt nur viel haben". 

Doch wie mit allen guten Dingen kann man es auch hier übertreiben, zumal der berufliche Erfolg durchaus auch seine faszinierenden Seiten hat und leicht eine besitzergreifende Eigendynamik entfaltet. Gerade wenn man auf diesem Weg schon ein Stück fortgeschritten ist, kann es daher lohnend sein, einmal zu überprüfen, ob sich die ökonomische Schiene vielleicht zu sehr verselbständigt hat und wie es – wieder in den Worten des alten Alfred Adler – um die Ausgewogenheit der drei Lebensaufgaben Liebe, Beruf und Gemeinschaft steht. Vor allem die letztgenannte Lebensaufgabe gerät in unserer Zeit leicht ins Hintertreffen, und der Preis ist dann eine gewisse Vereinzelung und Vereinsamung – selbst dann, wenn man viele gute geschäftliche Kontakte hat.  

Es scheint, dass viele Menschen spätestens ab der Lebensmitte spüren, dass ihnen hier etwas fehlt: Sie haben es beruflich wie privat zu etwas gebracht, haben Freude an ihrer Arbeit und kommen weiter voran – und trotzdem ist da das diffuse Gefühl, dass da noch etwas anderes sein sollte. Für sie kann Saigers Buch ein nützlicher Impuls sein, ihre eigene Lebenssituation zu reflektieren – und gegebenenfalls Korrekturen vorzunehmen und Weichen neu zu stellen, solange noch Zeit dafür ist. 

Saiger legt zunächst dar, "Warum das Glück in besseren Kontakten liegt". Im zweiten Kapitel macht er, aufbauend auf seine eigenen Erfahrungen und Präferenzen, ausführliche Vorschläge, "Die persönlichen Kontaktnetze reicher [zu] gestalten", und beschreibt alsdann im dritten "Öffentliche und private Plätze als Orte des Zusammen Tuns". Danach folgt eine handfeste, aber durchaus berechtigte Warnung: "Wenn die große Krise kommt, helfen nur Kontakte". (Genauer müsste es wohl heißen: … helfen nur stabile Beziehungen, denn bloße "Kontakte" garantieren keine wechselseitige Hilfe.) Zum Schluss wird Saiger grundsätzlich: "Vom Wohlstand zum Wohlfühlstand" will er uns im fünften Kapitel geleiten, und im sechsten plädiert er gar für "Die Kontaktgesellschaft: Ein neuer Vertrag zwischen unvollkommenen Menschen".  

Auch mit diesem klugen Bezug darauf, dass wir unsere sozialen Netzwerke auf "unvollkommene Menschen" aufbauen müssen, weil es halt keine anderen gibt, greift Saiger, ohne sich dessen bewusst zu sein, einen individualpsychologischen Gedanken auf, nämlich die Kritik an der Tendenz, sich selbst und andere an unerfüllbaren perfektionistischen Maßstäben zu messen. Eine Tendenz, der Theo Schoenaker den grandiosen Satz entgegengesetzt hat: "So wie ich bin, bin ich gut genug!" Wenn man diesen Satz erst für sich selbst und dann auch für andere akzeptieren kann, ist man Saigers Ideal einer Gesellschaft, in der sich die Menschen gegenseitig in ihrer Unvollkommenheit annehmen und respektieren, ein gutes Stück näher. 

Im Detail ist so manches anfechtbar, was Saiger schreibt. So ist etwa seine vollmundige Behauptung "Ich habe meine Glücksthesen mit Erkenntnissen der biologischen Evolutionsforschung verglichen" (S. 121) aus dem Literaturverzeichnis nicht nachzuvollziehen. Es umfasst überwiegend leichte Kost – deutschsprachige Zeitungsartikel und populäre Sachbücher. Das einzige ernstzunehmende evolutionsbiologische Werk, nämlich "Männlich – Weiblich" (aus der Feder der längst emeritierten Max-Planck-Forscher Wolfgang Wickler und Uta Seibt – im Original nicht 1998, sondern bereits 1983 erschienen) hat er bereits früher als rein zweckbezogenes Denken verworfen (S. 64). Doch wer mit der Evolutionsbiologie besser vertraut ist, fragt sich, warum ausgerechnet sie als wissenschaftliche Referenz zum Thema Glück herangezogen wird. Was Saiger als Untermauerung seiner kühnen Behauptung anführt, hat denn auch nichts mit Evolutionsbiologie zu tun, sondern nimmt recht vage und pauschal Bezug auf die Hirnforschung und die Neurotransmitter Serotonin und Dopamin. 

Nervig finde ich auch Saigers wenig reflektierte Glorifizierung von Gefühlen und Intuitionen, wie sie sich etwa in der Überschrift spiegelt: "Es kommt auf die guten Gefühle an" (S. 116), aber auch in dem von ihm propagierten "Wohlfühlstand" (als bessere Alternative zum Wohlstand). Zwar kann man sich natürlich auf den Standpunkt stellen, dass Gefühle und Intuitionen die wertvollere und zuverlässige Erkenntnisquelle sind als Fakten und Argumente – auch wenn es nicht schaden würde, dann ein bisschen mehr über die Funktionsweise von Gefühlen und Intuitionen zu wissen. Aber dann ist es eigentlich widersinnig, Sachbücher zu schreiben, die ja ihrem Wesen nach auf Argumentation – und damit auf (der Fiktion von) Rationalität – beruhen. Dann wäre es konsequent, seine Adressaten mit Gedichten oder Romanen, mit Theaterstücken oder Propagandareden für die eigene Sichtweise gewinnen zu wollen. Doch obwohl er Gefühlen und Intuitionen so große Bedeutung beimisst, setzt Saiger beharrlich auf Argumente. Vielleicht, weil er leise ahnt, dass Gefühle nicht aus dem Nichts entstehen, sondern als Folge unserer Gedanken und Bewertungen – und die sind durch Argumente durchaus manchmal zu beeinflussen. 

Doch diese Einwände verblassen angesichts der Ernsthaftigkeit, mit der Saiger für sein Anliegen kämpft. Auch wenn manche seiner Argumente wackelig sind, muss man ihm nicht nur zugestehen, dass er es ernst meint, sondern auch, dass er wirklich einen Punkt hat. Ja mehr noch: In der Hauptsache hat er wohl Recht, auch wenn seine Begründungen zum Teil anfechtbar sind und/oder mehr gedankliche Sorgfalt verdient hätten. Und diese Hauptsache ist: Ja, wir Menschen sind soziale Wesen und finden unsere Erfüllung und den Sinn unseres Daseins nur in der Gemeinschaft – und in der Auseinandersetzung – mit anderen. An diesem Erbe unserer Biologie kommen auch wir Heutigen nicht vorbei, obwohl wir mit Internet, Zustelldiensten und sorgfältig abgetrennten Einfamilienhäusern und Appartements eigentlich alle Voraussetzungen für ein hochkomfortables Eremitendasein besäßen. Doch aus irgendwelchen geheimnisvollen Gründen stellt uns dies nicht zufrieden, sodass wir tatsächlich vor der Frage des Untertitels stehen – und erkennen, dass dies eigentlich keine Alternative ist, weil bloßer materieller Wohlstand bei sozialer Verarmung kein erfülltes Leben ermöglicht. 

Trotzdem muss man sich vor Illusionen hüten, insbesondere vor einer Romantisierung des Gemeinschaftslebens: Das Eingebundensein in vielfältige soziale Beziehungen ist keineswegs das reine Glück, als das es sozial deprivierten Menschen erscheinen mag. Nicht der gemütliche Abend in der Skihütte ist der Normalfall, bei dem man das Gefühl der Zugehörigkeit so tief aufsaugt, dass man bis tief in den Morgen sitzenbleibt, sondern vielfältige Auseinandersetzungen und Konflikte: Der Ärger über menschliche Unzulänglichkeiten, das Durchsetzen eigener Vorstellungen und Interessen, die Enttäuschung über nicht erfüllte Erwartungen, die Abwehr von tatsächlichen oder vermeintlichen Zumutungen … So gesehen, kämpft Saiger hier ein bisschen zu sehr für eine soziale Idylle, die allenfalls in den losen Beziehungsstrukturen gutbürgerlicher Vorstädte realisierbar ist. Nein, so harmonisch sind Gemeinschaften im wirklichen Leben nicht – es gibt ja auch Gründe, weshalb in früheren Jahrzehnten gerade jüngere Menschen in Scharen diesen engen Strukturen in die "anonymen Großstädte" entflohen sind, auch wenn diese Gründe heute weitgehend in Vergessenheit geraten sind.  

Und trotzdem sind soziale Gemeinschaften wohl die einzige für Menschen "artgerechte" Lebensform. Die Herausforderung ist, sie so zu gestalten, dass man sich darin nicht nur geborgen, sondern auch einigermaßen frei fühlen kann. Und das geht wohl nur mit weniger sozialer Kontrolle und Anpassungsdruck als in manchem bayerischen, niedersächsischen oder afghanischen Dorf. Das aber heißt, dass der Weg in eine lebenswerte Zukunft kein "Zurück zu" irgendwelchen romantisch verklärten Sozialstrukturen sein kann, sondern eine anspruchsvolle Gestaltungsaufgabe ist: Die Herausforderung, Chance und Notwendigkeit lautet, neue, tolerantere und trotzdem verlässliche Formen von Gemeinschaft zu erfinden. Saigers Überlegungen und Vorschläge hierzu sind sicherlich nicht das letzte Wort, aber immerhin ein brauchbarer Anfang.

Schlagworte:
Gemeinschaft, Zusammenleben, Lebensgestaltung, Soziale Beziehungen, Netzwerke

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