Die Umsetzungsberatung

Rezensionen

Weshalb Großprojekte regelmäßig aus dem Ruder laufen

Flyvbjerg, Bent; Bruzelius, Nils; Rothengatter, Werner (2003):

Megaprojects and Risks

An Anatomy of Ambition

Cambridge University Press (Cambridge); 207 Seiten; 24,60 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 10 / 8

Rezensent: Winfried Berner, 24.08.2014

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Exzellente, scharfsichtige und schonungslose Analyse der ökonomischen und politischen Risiken von Großprojekten, mit konkreten Zahlen zu Kostenüberschreitungen und Nutzenun-terschreitungen, samt konkreter und kluger Lösungsansätze. Top-Empfehlung!

Der dänische Wirtschaftsgeograph Bent Flyvbjerg, der seit 2009 an der Oxford University lehrt, besitzt die weltgrößte Datenbank von Megaprojekten mit 258 Datensätzen (Stand: 2002). Anhand dieser Daten und einiger beispielhafter Großprojekte, die er detailliert studiert hat, untersucht er, was bei Megaprojekten schief läuft, sodass es regelmäßig sowohl zu erheblichen Kostenüberschreitungen als auch zu deutlichen Nutzenunterschreitungen kommt, und erforscht, was sich tun ließe, um zu besseren Ergebnissen – und realistischeren Kostenschätzungen – zu kommen.

Hier gibt es in der Tat dringenden Handlungsbedarf, denn das Resümee, das Flyvbjerg, Bruzelius und Rothengatter aus ihrer Untersuchung ziehen, könnte dramatischer kaum sein:
  • "Cost overruns of 40 per cent to 100 per cent in real terms are common in megaprojects; overruns above 100 per cent are not uncommon;
  • Demand forecasts that are wrong by 20 per cent to 70 percent compared with actual developments are common;
  • The extent and magnitude of actual environmental impacts of projects are often very different from forecast impacts. Post-auditing is neglected;
  • The substantial regional, national and sometimes even international development effects commonly claimed by project promoters typically do not materialize, or they are so diffuse that researchers cannot detect them;
  • Actual project viability typically does not correspond with forecast viability, the latter often being brazenly over-optimistic." (S. 136)

Vernichtender kann ein Urteil kaum ausfallen, vor allem wenn man erstens bedenkt, dass diese Aussagen nicht von Politikern kommen, die routinemäßig zuspitzen und polarisieren, sondern von nüchternen Wissenschaftlern, die zu einem abgewogenen Urteil verpflichtet sind, und zweitens, dass sich diese Feststellungen nicht auf einzelne, spektakulär aus dem Ruder gelaufene Projekte wie die Elbphilharmonie oder den Berliner Flughafen beziehen, sondern den Normalfall beschreiben.

Wobei der unscheinbare letzte Punkt (solange man nicht realisiert, dass "brazenly" auf Deutsch so viel "dreist, schamlos" bedeutet) im Klartext heißt: Viele dieser Projekte, vielleicht sogar die allermeisten, wären wohl niemals in Angriff genommen worden, wenn die politischen Beschlussgremien bei der Entscheidung die wahre Kosten-Nutzen-Relation geahnt hätten. Was auch schon ein wesentlicher Teil der Erklärung für die "brazenly over-optimistic" Zahlen ist: Eben weil sich zahlreiche Großprojekte niemals rechnen würden, wenn man realistische Zahlen zugrunde legte, sind sich ehrgeizige Politiker, Lobbyisten und Planungsbüros, die keinerlei Haftung für spätere Kostenüberschreitungen tragen, allzeit bereit, einen volkswirtschaftlichen Nutzen zu errechnen, der sich mit fortschreitender Projektdauer in einen immer größer werdenden Schaden verwandelt.

Ihr gemeinsames Interesse liegt daran, solche Projekte über jenen Punkt hinaus zu treiben, wo man sie nicht mehr abbrechen kann, ohne furchtbare Prügel zu bekommen, selbst wenn dies sinnvoll wäre, um den versenkten Milliarden nicht noch unzählige weitere hinterher zu werfen. Den Preis dafür bezahlt das wehrloseste Glied der Kette, nämlich der Steuerzahler. Aber wegen der hohen Intransparenz erfährt er weder, woher diese Gelder genommen werden und welche Auswirkungen dies auf seine Steuerbelastung hat, noch, auf welche nützlicheren Programme auf anderen Feldern er ihretwegen wegen "Unfinanzierbarkeit" verzichten muss. So besehen, findet hier ein unlauterer Wettbewerb zwischen Großprojekten auf der einen Seite und Steuerentlastungen sowie öffentlichen Investitionen etwa im Bildungs- und Sozialbereich auf der anderen statt. Aber die Kostenüberschreitungen können noch dramatische Folgen haben, denn es geht hier um Größenordnungen, die kleinere Staaten – und Bundesländer – an den Rand des Bankrotts bringen können.

"The tactical under- and overestimation of effects in the initial stages of project development make projects look good in the cost-benefit analyses and the environmental impact assessments", stellen die Autoren fest und beklagen, dass dieser "appraisal optimism" maßgeblich von "rent-seeking behavior" und "self-serving interest" getrieben ist (S. 137). Zwar ist es natürlich legitim, dass Wirtschaftsunternehmen Geld verdienen wollen; äußerst problematisch ist aber, dass die Entscheidungsstrukturen und Entscheidungsprozesse von Großprojekten eine fatale Kombination "of risk-negligence and lack of accountability" (S. 137) erzeugen, die schönfärberischen Darstellungen Tür und Tor öffnet.

Als "cures for the megaproject paradox" empfehlen Flyvbjerg, Bruzelius und Rothengatter drei Dinge: Erstens eine verpflichtende systematische Risikoanalyse und ein Risikomanagement. Die Kostenschätzung bei Großprojekten darf sich nicht, wie es häufig geschieht, an der Summe über die günstigsten denkbaren Kosten orientieren, sondern am "Most-Likely Development" (MLD). Wichtig sind auch die Bestimmung des Break-Even sowie die Betrachtung von Worst-Case-Szenarios.

Zweitens verlangen sie ein "rearrangement of public and private responsibilities in megaproject development" (S. 138). Bei der herkömmlichen Vorgehensweise spielen öffentliche Stellen und die Politik eine Vielzahl von widersprüchlichen Rollen, die unweigerlich zu Interessenkonflikten und einseitigen Entscheidungen führen: Sie sind Promotoren ihres Projekts, Auftraggeber der Planungsbüros, Festleger von Vorgaben und Spezifikationen, Ersteller von Beschlussvorlagen, Berater der politischen Entscheidungsgremien, Exekutive für getroffene Entscheidungen, Gesprächs- und Verhandlungspartner für gesellschaftliche Interessengruppen, Kontraktoren von Großaufträgen und deren Controller und manches andere mehr. Das führt unweigerlich zur Voreingenommenheit; zugleich mangelt es, wie die Autoren im achten Kapitel ausführlicher darlegen, an "checks and balances", und die Festlegung geht viel zu schnell zu bestimmten technischen Lösungen, statt sich an übergeordneten Zielen zu orientieren. Die allgemeine Öffentlichkeit sowie unterschiedliche Interessengruppen werden viel zu spät informiert und in die Diskussion einbezogen; sie kommen überhaupt erst zu einem Zeitpunkt ins Spiel, wo Änderungen bereits sehr teuer werden.

Drittens fordern Flyvbjerg, Bruzelius und Rothengatter vier Instrumente, um mehr Verantwortlichkeit herzustellen: Transparenz, insbesondere "a higher degree of publicness and of public participation" (S. 139); klare "Performance Specifications", also Angaben darüber, was das Projekt eigentlich leisten und welchen nachprüfbaren Nutzen es bringen soll; weiterhin ein sauberes "Regulatory regime", also klare Spielregeln, die als Planungsgrundlage für den späteren Betrieb und allfällige Erlöse dienen können, und schließlich – besonders interessant – eine Ko-Finanzierung durch privates Risikokapital, für das es keine staatlichen Garantien gibt. Nur wenn private Kapitalgeber bereit seien, substanziell, das heißt in Höhe von mindestens einem Drittel der Gesamtkosten, ins Risiko zu gehen, dürften Megaprojekte überhaupt gestartet werden: Wenn dieses Risikokapital nicht aufzutreiben ist, sei dies der Beweis, dass "das intelligente Kapital" nicht an das Projekt bzw. nicht an dessen Kosten-Nutzen-Rechnung glaubt. Umgekehrt hat die Beteiligung von Risikokapital den Vorteil, dass die professionellen Investoren auch die Ausführung überwachen und für eine effiziente Realisierung sorgen.

Allen Lesern empfehle ich, nach dem einführenden Kapitel "The Megaproject Paradox" und dem schockierenden zweiten Kapitel "A Calamitous History of Cost Overrun" zunächst das abschließende zwölfte Kapitel "Beyond the Megaproject Paradox" zu lesen, das eine exzellente Zusammenfassung der Kernaussagen dieses Buches gibt. Danach kann man dort, wo man möchte, tiefer einsteigen oder auch – was sich wirklich lohnt – das gesamte Buch lesen. Die drei Autoren legen wirklich die Finger in die Wunden solcher Großprojekte, aber sie tun es nicht in besserwisserischem, gehässigem oder "entlarvendem" Ton, sondern, wie ein guter Arzt, "in Sympathie mit den Leidenden". Denn man muss das Problem verstehen, wenn man es lösen möchte, und dafür muss man den Mut aufbringen, vorbehaltlos hinzuschauen.

Schlagworte:
Projektmanagement, Großprojekte, Megaprojekte, Kostenüberschreitungen

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