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Vor einem Wendepunkt der Welt(wirtschafts)geschichte?

Miegel, Meinhard (2005):

Epochenwende

Gewinnt der Westen die Zukunft?

Propyläen (Berlin) 5. Aufl. 2006; 312 S.; 22,00 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 9 / 7

Rezensent: Winfried Berner, 20.04.2007

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Laut Miegel stehen wir an einem epochalen Wendepunkt: Aufgrund von Überalterung, Hedonismus und nachlassender Leistungsbereitschaft verliert der Westen seine Dominanz in der Weltwirtschaft – doch er könnte zum Vorreiter eines neuen Lebensstils werden

Etwas ratlos schob ich dieses Buch in meine Aktentasche, nachdem ich es zu Ende gelesen hatte. Der renommierte Sozialforscher Meinhard Miegel, Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn, trägt darin viele Gedanken vor, die mir schlüssig erschienen, und sagt kaum etwas, was mir völlig falsch und widersinnig erschiene. Aber was hatte ich nun eigentlich gelernt? Am Ende des Buchs wäre ich kaum dazu in der Lage gewesen, eine prägnante Zusammenfassung seiner zentralen Thesen zu geben. Ein zweites Durchblättern hilft mir in solchen Fällen meist, die Essenz eines Buches herauszudestillieren, die beim ersten Lesen manchmal hinter Einzelaspekten verlorengeht. In diesem Fall brachte sie kaum mehr Klarheit: Ich hatte mit für meine Verhältnisse ungewöhnlich wenig angestrichen, weil mir zwar sehr Vieles schlüssig erschienen war, aber nur Weniges sich zu einem "Aha-Effekt" verdichtete. Und ich lese ja nicht, um meine Sichtweisen (oder Vorurteile) bestätigt zu finden, sondern um über sie hinauszukommen.

Auch auf den zweiten Blick war da wenig, was mir so epochal erschien, dass es das große Wort von einer "Epochenwende" gerechtfertigt hätte. Einzelne bemerkenswerte Gedanken sehr wohl, wie etwa "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" (S. 95 ff.) – und zwar weltweit. In der Tat gibt es keinen Grund, weshalb in einer zusammenwachsenden Welt mit extrem niedrigen Kommunikations- und Transportkosten die Preise für vergleichbare Leistungen auf längere Sicht stark differieren sollten: "Schließlich steht auch fast keine Berufsgruppe mehr bloß am Rande des Spiel- oder – wie manche meinen – Schlachtfeldes. (...) Die Hoffnung der Westeuropäer, aber auch der Amerikaner und Japaner, Hoch- und Höchstqualifikation schützen vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, hat sich als trügerisch erwiesen." (S. 71) Das geht ans Eingemachte, weil es bedeutet, dass sich die Lohnniveaus weltweit angleichen werden – und zwar vermutlich so langsam, dass wir im Westen gute Chancen haben, darüber am ausgestreckten Arm zu verhungern. Je zurückhaltender unsere "Verfolger" mit ihrer Lohnpolitik bleiben, desto länger wird für uns die Durststrecke, und desto mehr dürften sich die Gewichte in der Weltwirtschaft verschieben.

Bemerkenswert ebenfalls, wenn Miegel für die Völker der frühindustrialisierten Länder feststellt, "dass sie über den Akt einer historisch beispiellosen Mehrung materiellen Wohlstands vieles andere vernachlässigt haben. Sie vernachlässigten nicht nur den großen Bereich des Philosophischen, Religiösen, Musischen, Spielerischen. Sie vernachlässigten vor allem Familie, Freundschaften, Nachbarschaften, das gesellschaftliche Gefüge insgesamt und auf eine merkwürdig paradoxe Weise sogar sich selbst. (...) Dem geschaffenen Reichtum stehen erhebliche Defizite gegenüber. Die Völker des Westens sind reicher und ärmer denn je. Der Einzelne ist wirtschaftlich so unabhängig wie noch nie – und dennoch äußerst verletzlich. Er kann sich nur noch auf wenig stützen, was nicht mit Geld zu bezahlen ist. Ähnlich verhält es sich mit der Bevölkerung insgesamt. Materiell geht es ihr glänzend. Doch zugleich ist ihr gesellschaftliches Gehäuse so morsch geworden, dass es nur noch mit hohem und ständig steigendem Aufwand aufrechterhalten werden kann." (S. 162) Nach seinem Urteil fehlt unseren Gesellschaften "das vermutlich Wichtigste: der feste innere Zusammenhalt." (S. 163)

Beachtlich fand ich auch, dass Miegel ökologische Aspekte sehr intensiv in seine Überlegungen einbezieht – auch wenn es ihm (noch?) nicht gelingt, sie vollständig zu integrieren: "Nicht zu bestreiten ist jedoch, dass der durchschnittliche Rohstoffverbrauch pro US-Bürger oder Westeuropäer multipliziert mit der Kopfzahl der Weltbevölkerung und hochgerechnet auf das Jahr 2050 zu absurden, globussprengenden Ergebnissen führt." (S. 38) Gleich welcher politischen Auffassung man zuneigt, es mehren sich die Anzeichen, dass diese unsere einzige Welt doch nicht so unerschütterlich belastbar gegenüber unserem Treiben ist wie es uns noch vor kurzem erschien, sondern dass sie an die Grenzen ihrer Pufferungsfähigkeit gestoßen ist – oder sie vielleicht schon so weit überschritten hat, dass uns die kumulierten (oder multiplizierten?) Folgen noch gewaltig in Atem halten – oder außer Atem bringen – werden. Das heißt aber: Das Thema Umwelt muss zwingend mitgedacht werden, wenn wir über die Zukunft des Westens und/oder der Weltwirtschaft nachdenken. Anderenfalls laufen wir Gefahr, die Rechnung im buchstäblichen Sinne ohne den Wirt zu machen.

Doch so wichtig und spannend das alles ist: All das sind nur interessante Facetten – was aber ist die übergeordnete Aussage des Buchs? Auch wenn sie in dem Titel "Epochenwende" überdeutlich angedeutet ist, kostete es mich einige Mühe, sie zu entdecken. Paradoxerweise verdecken gerade der gefällige, bei allem Faktenreichtum beinahe erzählerische Ton Miegels und die unzähligen Einzel- und Seitenaspekte, die er vor dem Leser ausbreitet, seine zentrale Botschaft. Bei ihrer Tarnung helfen auch die Überschriften: Die vier Hauptteile heißen "Prolog", "Konflikte", "Wachstumsmythos – Wohlstandswahn" und "Die Zukunft gewinnen". Die Überschriften der Kapitel reihen ebenfalls eher eine Perlenkette von Einzelaspekten aneinander, als dass sie zu einer zentralen Botschaft verschmölzen. Als Beispiel hier die ersten Kapitel des Teils "Wachstumsmythos – Wohlstandswahn": "Ideale im Wandel", "Prägungen", "Wendepunkte", "Angebot und Nachfrage", "Wohlstand", "Starke und Schwache", "Ruhepausen", "Orientierungslos" ... – ja, so ging es mir zunehmend auch.

Erst wenn man das Buch noch mal liest und dabei gezielt nach der großen Linie und den zentralen Aussagen sucht, erschließt sich – jedenfalls für mich –, was uns Meinhard Miegel jenseits der vielen Details und Einzelaspekte eigentlich sagen will. Und das lohnt sich in der Tat zu hören und zu bedenken, sodass es umso bedauerlicher ist, dass er diese gewichtigen Gedanken nicht deutlicher herausstellt. Wenn ich Miegel richtig verstehe, sind seine zentralen Aussagen:

1. Die Epoche, in der die Weltwirtschaft von den frühindustrialisierten Ländern (also der Westen einschließlich Japans) dominiert wurde, geht zu Ende. Zunehmende Überalterung, Individualismus und Hedonismus verstärken die Wirkung des Lohnkostengefälles. In Summe werden sie bewirken, dass sich das Zentrum der Weltwirtschaft verschiebt. Der Westen wird daran nicht untergehen, aber er wird deutliche Abstriche an seinem Wohlstand hinnehmen müssen.

2. Die gesamte Weltwirtschaft ist gefangen in einem Spiel, das seinen Sinn verloren und sich mehr und mehr zum lebensbedrohlichen Unfug gewandelt hat: Wir produzieren auf Teufel komm raus immer mehr Güter, die zum größten Teil keiner mehr braucht und die deshalb mit gigantischem Marketing- und Vertriebsaufwand in den Markt gepresst werden müssen. Dafür nehmen wir sowohl individuelles Leid durch Wohlstandskrankheiten und Überschuldung in Kauf als auch erhebliche Risiken für unsere Sozialsysteme und die Schieflage der Weltwirtschaft insgesamt als auch schwere Schäden oder gar einen Kollaps des Ökosystems der Erde.

3. Die durch Alter und nachlassende Wirtschaftskraft erzwungene Umorientierung der frühindustrialisierten Länder birgt die große Chance für eine Neuorientierung unseres Lebensstils: Eine Relativierung der derzeitigen Überwertung des Ökonomischen und eine Wiederentdeckung der Lebensbereiche, die die sehr viele von uns in der Vergangenheit vernachlässigt haben. Das verspricht nicht nur mehr Lebensqualität als ein (schuldenfinanziertes) neues Auto oder eine teure Urlaubsreise, sondern es könnte zugleich der Schlüssel zur Rettung der Welt sein. Denn spätestens in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts werden die heute aufstrebenden Länder ebenfalls deutlich gealtert sein – und zunehmend bereit, sich ebenfalls an einem ausgewogeneren Lebensmodell zu orientieren.

Ich finde diesen Gedankengang ausgesprochen hoffnungsvoll und ermutigend. Da der Westen nicht erwarten kann, dass andere sich einschränken, wenn er es nicht tut, besteht unsere einzige Chance wohl wirklich darin, ein anderes Lebensmodell zu entwickeln und vorzuleben. Nackte ökonomische Zwänge werden uns die Entscheidung erleichtern, ein Stück Verzicht zu üben. Unsere Wahl ist, ob wir angesichts dessen beleidigt und zänkisch reagieren oder ob wir die Chance in der Krise beim Schopfe ergreifen. Mir persönlich sagt das Zweite mehr zu. Deshalb verzeihe ich Miegel auch gerne, dass er keinen fertigen Implementierungsplan mitliefert, wie wir diese Epochenwende bewältigen können.

Schlagworte:
Weltwirtschaft, Lebensformen, Ökologie, Zukunft, Gesellschaft, Zukunftsstrategien

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