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Leider weder praktisch noch eine wirkliche Orientierungshilfe

Kornbichler, Thomas (2007):

Die Individualpsychologie nach Alfred Adler

Eine praktische Orientierungshilfe!

Kreuz (Stuttgart); 100 S.; 9,95 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 6 / 8

Rezensent: Winfried Berner, 29.06.2008

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Für eine Einführung zu speziell, für eine Monographie zu kurz – das Büchlein enttäuscht, weil unklar bleibt, was es eigentlich sein will, und es auf diese Weise leider niemanden viel bringt.

Für eine kompakte Einführung in die Individualpsychologie bestünde dringender Bedarf, gibt es doch auch heute nach meiner Kenntnis nichts Aktuelleres als Rudolf Dreikurs' 1933 erschienene, von den Nazis verbrannte und 1968 neu aufgelegte "Grundbegriffe der Individualpsychologie", nachdem eine 1990 auf Deutsch erschienene Einführung von Adlers Tochter Alexandra leider längst vergriffen ist. Deshalb habe ich auch mit großen Erwartungen Thomas Kornbichlers "Die Individualpsychologie nach Alfred Adler" aufgeschlagen, zumal sie im Untertitel "Eine praktische Orientierungshilfe" verspricht und dies sogar in etwas ungelenkem Marketing mit einem Ausrufezeichen betont. Aber dieses netto nur 75 Seiten umfassende Büchlein ist leider weder praktisch noch eine Orientierungshilfe. Es hilft dem interessierten Laien nicht wirklich, sich ein Bild von der Individualpsychologie zu machen, und noch weniger liefert es ihm eine praktische Orientierung. Vielmehr ist es eher an der Theorie als an der Praxis der Individualpsychologie interessiert – was an sich nicht verwerflich ist, aber im eklatanten Widerspruch zum Untertitel wie auch zum Sinn und Zweck einer einführenden Orientierungshilfe steht.

Das schmale Büchlein ist in sechs Abschnitte gegliedert:
1. Ganzheitliche Persönlichkeitspsychologie
2. Alfred Adler – Herkunft und Lebensstil
3. Lebensstilanalyse
4. Heilen und Bilden
5. Alfred Adler – von Europa nach Amerika
6. Individualpsychologie als sozioökonomische Basisinnovation für das 21. Jahrhundert

Auch wenn die Abschnitte zum Teil nur wenige Seiten umfassen, würde es diese Struktur eigentlich möglich machen, die zentralen Gedanken der Individualpsychologie anschaulich und überzeugend zu vermitteln. Aber Kornbichler vermittelt sie nicht, er rekapituliert sie eher: Nüchtern, knapp, ohne sonderliche Begeisterung – eher eine Zusammenfassung für Leser, die mit den Grundbegriffen der Individualpsychologie bereits vertraut sind und nur noch einmal einer kurzen Auffrischung bedürften. Ein Wille, diese Gedankengänge für die Leser nachvollziehbar und nacherlebbar aufzubereiten, ist nicht zu spüren, geschweige denn die Absicht, sie für die Individualpsychologie zu begeistern. Leiden die Individualpsychologen unserer Generation denn alle unter Blutarmut?!

Anregend wird Kornbichler dort, wo er die Grundlagen verlässt. Dort entfaltet er auch spürbares Engagement. Er ist sehr belesen, was die Werke Alfred Adlers und einiger anderer Individualpsychologen betrifft, und er verknüpft deren Gedanken zuweilen auf eine interessante, weiterführende Weise. Schade eigentlich, dass das nur einzelne Facetten sind und dass daraus überdies nur Leser einen Nutzen ziehen können, die mit den Grundbegriffen der Individualpsychologie schon recht gut vertraut sind.

Das erste Kapitel ist mit zweieinhalb Seiten eher ein Vorwort, das in einer zentralen Aussage Alfred Adlers kulminiert, "dass jeder kleinste Zug des Seelenlebens von einer planvollen Dynamik durchflossen ist. Die vergleichende Individualpsychologie erblickt in jedem psychischen Geschehen den Abdruck, sozusagen ein Symbol des einheitlich gerichteten Lebensplanes." (S. 12) Welch ein kühner Gedanke, auch heute, nach beinahe 100 Jahren noch! Jede einzelne unserer Handlungen wäre danach ganzheitlicher Ausdruck unserer Persönlichkeit, sodass sich unser Charakter über jede einzelne Handlung erschließen ließe. Aber Kornbichler tut wenig, um dem Leser die Radikalität und Tragweite dieses Gedankens zu "verkaufen"; er rekapituliert ihn mit geschäftsmäßiger Routine, als ob er das Normalste der Welt wäre.

Im zweiten Kapitel umreißt Kornbichler auf neun Seiten Alfred Adlers Lebensgeschichte und Lebensstil. Ihm kann man entnehmen, dass Adler auch aufgrund seiner eigenen frühen Lebenserfahrungen (und -entscheidungen) dazu neigte, die Schlüsselrolle des eigenen Entscheidens, Handelns und Übens hervorzuheben – auch wenn mir Kornbichlers Resümee etwas grobschlächtig erscheint, "Begabung sei nur Training und Selbstbewusstsein, woraus Zuversicht und Leistung erwüchsen." (S. 14f.)

Der dritte und mit 20 Seiten umfangreichste Abschnitt "Lebensstilanalyse" ist in meinen Augen das ergiebigste des Buchs, allerdings auch nur für Leser mit Vorkenntnissen. Was soll der Laie mit Sätzen wie etwa diesem anfangen: "Der Lebensstil eines Menschen ist die im Hier und Jetzt wirksame Psychodynamik. Diese ist eingebettet in die kompensatorische Bewegung zwischen lebensgeschichtlichen Erfahrungen und künftigen Erwartungen …" (S. 24) Das klingt nach kryptischem Psycho-Gebrabbel – völlig zu Unrecht, aber es wäre der Job des Autors einer einführenden Orientierungshilfe, dies dem Leser "auszudeutschen". Doch der entzieht sich Kornbichler. Kennzeichnend ist, dass er es nicht für erforderlich hält, den Begriff "Lebensstil" den gängigeren Bezeichnungen "Charakter" und "Persönlichkeit" gegenüberzustellen. Erst gegen Ende des Kapitels zitiert Kornbichler eine ausgesprochen erhellende Aussage Adlers, die seinen Begriff des Lebensstils klar gegen die verbreiteten Vorstellungen von einem "angeborenen" oder frühkindlich "geprägten" Charakter abgrenzt: "Was Charakter in Wirklichkeit bedeutet, ist eine soziale Stellungnahme. Es gibt keinen Charakterzug, der nicht reflektiert auf die Außenwelt und die Nebenmenschen." (S. 40)

Gut verständlich arbeitet Kornbichler die Zusammenhänge zwischen Minderwertigkeitsgefühl, Kompensation und Geltungsstreben heraus: "Nach Adler heißt Menschsein, sich minderwertig fühlen." (S. 26) Sehr unterschiedlich ist jedoch die Art, wie Menschen ihr Minderwertigkeitsgefühl zu kompensieren versuchen. Hier liegt der Unterschied zwischen dem gesunden Menschen und dem Neurotiker (den Adler den "nervösen Charakter" nennt): "Der große Unterschied ist nur der, dass der Nervöse nach einer persönlichen Überlegenheit strebt und dabei von der Gemeinschaft, in der er lebt, eine Beitragsleistung erwartet, während der normale Mensch nach einer Vollkommenheit strebt, die allen zugute kommt." (S. 27) Zu dem neurotischen Streben nach Überlegenheit zählt sowohl ein asoziales Streben nach Macht ein, das mit Adlers Individualpsychologie oft etwas einseitig in Verbindung gebracht wird, als auch das Streben nach moralischer Überlegenheit. Weiter Kornbichler: "Wie die Minderwertigkeitsgefühle, so ist nach Alfred Adler allen Menschen auch ein kompensatorisches Streben nach Vollkommenheit eigen, das sich bei einer gesunden Entwicklung auf der Linie des Gemeinschaftsgefühls entfaltet." (S. 28) Mit diesem letzten Begriff zeichnet sich ein Gedanke ab, der für die Individualpsychologie weitaus zentraler ist als der vielzitierte Wille zur Macht: der Bereitschaft gesunder Menschen, ihren bestmöglichen Beitrag zu der Gemeinschaft zu leisten, der sie sich zugehörig fühlen.

Der vierte Abschnitt "Heilen und Bilden" befasst sich vor allem mit dem individualpsychologischen Beitrag zu Psychotherapie und Erziehungsberatung (deren Erfindung und Institutionalisierung übrigens ebenfalls das Werk Alfred Adlers war). "Ein Psychotherapeut ist eigentlich ein Fachmann im Überwinden von Minderwertigkeitsgefühlen und Minderwertigkeitskomplexen. (…) Aus einem schüchternen einen mutigen Menschen machen – darauf läuft im Wesentlichen die Therapie hinaus." (S. 47) Auch hier spielt die Umorientierung von der Ichbezogenheit hin zur Gemeinschaft eine zentrale Rolle: "Der seelisch gestörte Mensch muss lernen, den Blick von seiner Person weg und hin zu den anderen zu lenken. Es gilt, ihn zum Mitspielen zu bewegen …" (S. 48) Methoden und Vorgehensweise der individualpsychologischen Behandlung werden notwendigerweise nur kurz angerissen. Charakteristisch für die individualpsychologische Erziehungsberatung im Wien der 20-er Jahre war: "Die Beratungen sind, das Einverständnis der Eltern vorausgesetzt, öffentlich. Damit ist ein aufklärerischer Multiplikatoreneffekt gegeben. Ausbildungskandidaten können hospitieren." (S. 52)

Der 5. und der 6. Abschnitt sind der Frage gewidmet, was seither aus der Individualpsychologie geworden ist  und was aus ihr noch werden könnte. Adlers aufklärerische Volksbewegung wurde von den Nazis und ihren österreichischen Ablegern verboten und zunichte gemacht; seine Bücher wurden verbrannt.  Adler selbst wie auch viele seiner Schüler konnten sich ins Ausland retten, doch er zerbrach an der Entwicklung und starb 1937 im Alter von 67 Jahren bei einer Vortragsreise in Schottland. Als eigenständige Lehr- und Forschungsrichtung hat die Individualpsychologie in Europa seither nie wieder die Bedeutung erlangt, die sie vor dem Krieg hatte, doch wurde sie zu einer der Wurzeln der Humanistischen Psychologie wie auch dessen, was sich heute "systemische Psychotherapie" bzw. "systemische Beratung" nennt.

Dennoch erscheint es auf den ersten Blick allzu kühn, wenn Kornbichler die Individualpsychologie im letzten Kapitel als "sozioökonomische Basisinnovation für das 21. Jahrhundert" herausstellt. Man könnte geneigt sein, dies als das kompensatorische Streben nach Überlegenheit einer von den Zeiten hart gebeutelten psychologischen Schule zu halten. Doch angesichts des Umfangs, in dem individualpsychologische Begriffe und Gedanken unmerklich in die Alltagssprache eingeflossen sind, aber auch angesichts der Klarheit ihrer Konzepte, zu denen die moderne psychologische Forschung erst allmählich aufschließt, ist an dieser Einordnung wohl doch mehr dran als auf den ersten Blick scheint. Umso wichtiger wäre es, endlich wieder eine zeitgemäße und vor allem allgemeinverständliche Einführung zu Verfügung zu haben, die das Versprechen "praktische Orientierungshilfe" tatsächlich einlöst!

Schlagworte:
Individualpsychologie, Einführung, Minderwertigkeitsgefühl, Kompensation, Systemische Beratung

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