Den versprochenen "Grundkurs Soziobiologie" liefert das Bändchen leider nicht, wohl aber eine lesenswerte Sammlung von Essays, die sehr denkanstoßende Schlaglichter auf "Die Natur des Menschen" werfen, sich allerdings nicht zu einem Gesamtbild fügen.
Die Idee, 18 pointiert geschriebene FAZ-Essays zu einem "Grundkurs Soziobiologie" zusammenzufassen, ist naheliegend, aber sie geht nicht ganz auf. Denn die Essays konzentrieren sich, was für ihren ursprünglichen Verwendungszweck auch absolut in Ordnung ist, auf besonders interessante Einzelfragen rund um die Soziobiologie des Menschen, die teils an Alltagsbeobachtungen (wie Fußballbegeisterung) angeknüpft, teils um interessante theoretische Zusammenhänge (wie den Erklärungen für Barmherzigkeit) entfaltet werden. Doch 18 interessante Essays (= Versuche) zur Soziobiologie des Menschen ergeben zusammengenommen keinen "Grundkurs", der als kompakte Einführung in die Disziplin taugt, sondern sie bleiben 18 interessante Einzelthemen. Was als "soziobiologische Essays" oder "Streiflichter aus der Soziobiologie" treffend charakterisiert gewesen wäre, bleibt unter dem Systematik verheißenden Anspruch des Untertitels zurück, aber auch hinter dem großen Wort des Haupttitels, denn auch auf "Die Natur des Menschen" wirft es nur – teilweise hochinteressante – Schlaglichter, macht aber gar nicht den Versuch zu einem Gesamtbild.
Auch wenn die Hoffnung, eine kompakte und leicht verdauliche Alternative zu Volands großem "Grundriss der Soziobiologie" zu bekommen, leider enttäuscht wird, lohnt sich die Lektüre – jedenfalls für Leser, die schon Grundkenntnisse in diesem Fach mitbringen. Sie erhalten in gut lesbarer Form Einblick in die soziobiologischen Erklärungsmodelle zu einigen der großen Menschheitsfragen, wie zum Beispiel der nach den Spielregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens, nach dem Verhältnis der Geschlechter, nach der biologischen Funktionen von Angeberei und Luxus bis hin zur Erklärung von Phänomenen, die es nach naiven Deutungen der Evolutionstheorie eigentlich gar nicht geben dürfte, wie Altruismus, Wohltätigkeit oder Religion.
Dabei fallen immer wieder Erkenntnisse ab, die ein neues Licht auf menschliche Eigenschaften und Verhaltensmuster werfen, wie zum Beispiel, dass auch unsere intellektuellen Fähigkeiten auf biologischen Nutzen optimiert sind – was Voland zuspitzt zu dem Satz: "Betrüger zu entlarven, gelingt uns besser, als logisch zu denken." (S. 24) Oder dass die Konkurrenz autonomer Gruppen, die weite Phasen der Menschheitsgeschichte bestimmt und damit auch unsere Verhaltensdispositionen geprägt hat, uns geradezu zur Doppelmoral prädestiniert, also zum Anlegen von zweierlei Maßstäben, je nachdem, ob wir einen anderen Menschen zu "Wir" oder zu "Die" zählen. Der Nutzen eines starken internen Zusammenhalts ist optimale Durchsetzungsfähigkeit nach außen – sein Preis die feindselige und entwertende Behandlung von Außenstehenden. Was Voland zu der Frage veranlasst, ob wir neben der Gewaltprävention vielleicht auf eine "Moralprävention" brauchen: "Denn eine Moral, die immer zugleich als Doppelmoral daherkommt und ihrer evolutionären Funktion entsprechend Verlierer produzieren muss, steht einer aufgeklärten Humanität entgegen." (S. 33)
Spannend auch, was er zu der – vor allem männlichen – Tendenz schreibt, nach Statussymbolen, Titeln und Privilegien zu streben. Das hängt damit zusammen, dass der Status von Männern deutlich mit ihrem Reproduktionserfolg korreliert. Der weist bei Männern eine sehr viel größere Streubreite auf als bei Frauen: Da ihre biologische Investition geringer ist, können Männer sehr viel mehr Kinder haben als Frauen; da in Summe aber die gleiche Kinderzahl herauskommen muss, gibt es auch mehr Männer als Frauen, die gar keine Kinder haben. "Offensichtlich haben sozial erfolgreiche Männer überall auf der Welt das, was im Jargon der Soziobiologen 'Paarungserfolg' genannt wird. Sie sind mehr als ihre weniger erfolgreichen Mitbewerber interessant für Partner suchende Frauen." (S. 41) Dass das unter unseren heutigen Lebensbedingungen nicht mehr zwangsläufig sinnvoll ist, spielt keine Rolle: "Biologisch angepasste Merkmale (…) sind nach reproduktiver Effizienz in der Vergangenheit ausgelesen worden, und ob sie sich auch in der Gegenwart bewähren, ist von vornherein keineswegs klar." (S. 43) Und, noch eins drauf: "Menschen sind eben Anpassungsexekutoren, nicht Fitnessmaximierer." (S. 43) "Es ist die Vergangenheit, die die Gegenwart erklärt." (S. 45)
Dass Männer von der Tendenz her kompetitiver und statusorientierter sind als Frauen, ist daher aus verhaltensökologischer Sicht wenig überraschend. Wie überhaupt männliche Verhaltenstendenzen und Charakterzüge viel mit den Reproduktionserfolgen der Vergangenheit zu tun haben: "Geschlechterdifferenzierung ist (…) auch evolutionärer Ausfluss von Partnerwahlverhalten, und dies wiederum bedeutet, dass die männliche Psyche zu einem nicht unerheblichen Teil Spiegel weiblicher Partnerwahlentscheidungen der Vergangenheit ist. Und umgekehrt: Frauen sind evolutionär den Präferenzen gefolgt, nach denen sie von den Männern gewählt worden sind. Wegen der oben besprochenen Asymmetrie auf dem Partnermarkt ist die kreative Kraft weiblicher Präferenzen allerdings evolutionär folgenreicher als die der männlichen gewesen." (S. 53)
Was Eckard Voland, seines Zeichens Professor für die Philosophie der Biowissenschaften in Gießen, auszeichnet, ist, dass er kein biologistischer Eiferer ist, der alles, was er sieht, notfalls mit Gewalt in das Prokrustes-Bett biologischer Erklärungen zwingt, sondern ein sorgfältiger, aber auch gelassener Denker, der kulturelle und sogar transzendentale Phänomene nicht panisch und voreingenommen "wegerklären" möchte, sondern sich ihnen mit Aufmerksamkeit, Interesse und Respekt nähert – und mit der Geduld, genau hinzuschauen, statt nach einer halbgaren Pseudo-Erklärung erleichtert dem nächsten Thema zuzuwenden.
Das macht sich wohltuend bemerkbar, wenn er sich etwa in Lektion 14 daran macht, das universale Phänomen der Religion aus soziobiologischer Sicht zu beleuchten. Was eine echte Herausforderung ist, denn: "Auf den ersten Blick ist Religion alles andere als naturgeschichtlich plausibel, und deshalb wird der betende Mensch gern als Beleg für die Auffassung verwendet, dass es auf Erden eben doch nicht so hundertprozentig darwinistisch korrekt zugehe." (S. 116) Wobei er gleich zu Anfang deutlich macht, dass die verhaltensökologische Erklärung von Religion eine ganz andere ist als die nach deren Wahrheitsgehalt: "Diese Aussage nimmt übrigens nicht Stellung zu der Frage, ob es Gott gibt oder nicht." (S. 117)
Die differenzierte Erklärung lässt sich etwa so zusammenfassen: Auch wenn Religion, ähnlich wie die Sprache, eine große Bandbreite unterschiedlichster Ausprägungen hat, besitzen doch alle bekannten Religionen eine gemeinsame Tiefenstruktur mit den vier konstituierenden Elementen Mythen, Mystik, Ethik und Rituale. Diese Elemente helfen Gesellschaften, einen starken Zusammenhalt zu entwickeln, erfolgreiche Spielregeln des Zusammenlebens zu etablieren und den ewigen Konflikt zwischen Eigennutz und Gemeinnutz – bis hinein in das Sich-Opfern – auf eine Weise zu lösen, die dem langfristigen Erfolg der Gemeinschaft dient. Aus biologischer Sicht macht nicht ihr Wahrheitsgehalt, sondern ihre "weltliche Nützlichkeit" (Emile Durkheim) den Erfolg der Religionen aus. Voland zitiert den Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek: "Religion überlebt, weil sie Kinder zeugt, nicht weil sie wahr ist." (S. 125) Was er wiederum mit Geburtenstatistiken untermauert.
Eine andere Herausforderung für die Soziobiologie ist die Erklärung von Phänomenen, die keinen Nutzen für die biologische Fitness und oftmals sogar deutliche Fitness-Nachteile haben, wie zum Beispiel ein riesiges Geweih, ein farbenprächtiges Gefieder, teurer Schmuck oder ein ultraschneller Sportwagen. Eine sehr schlüssige Erklärung hierfür liefert der israelische Ornithologie Amotz Zahavi mit seinem "Handicap-Prinzip": Indem sie sich teure Handicaps aufladen, beweisen Hirsche, Pfauen und andere – vorwiegend männliche – Geschöpfe, dass sie so fit sind, dass sie sich diese Handicaps leisten können. Es handelt sich dabei also um ein sehr aufwändiges und gerade deshalb nicht einfach nachzuahmendes Signal an das andere Geschlecht, stark und gesund zu sein und "gute Gene" zu besitzen. Auch beim Menschen liefert das eine soziobiologisch schlüssige Erklärung für Luxus und Verschwendung: "Das Teure (…) hat Signalfunktion. Es kommuniziert ansonsten verborgene Eigenschaften desjenigen, der den Preis dafür bezahlt hat. Menschen fabrizieren in Ermangelung natürlicher Handicaps ihre artifiziellen Pfauenschwänze." (S. 132)
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