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Begeisternde Gesamtschau der kognitiven Psychologie

Kahneman, Daniel (2011):

Thinking, Fast and Slow

Deutsch: Schnelles Denken, langsames Denken

Farrar, Straus and Giroux (New York); 499 Seiten; 24,99 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 10 / 10

Rezensent: Winfried Berner, 26.11.2012

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Mein Psychologie-Buch des Jahrzehnts: Anschaulich, mit großer Klarheit, Witz umfassendem Wissen erklärt Nobelpreisträger Daniel Kahneman, wie unser Denken, Urteilen und Entscheiden funktioniert und welche systematischen Fehler wir dabei machen.

Seit fast 30 Jahren bin ich ein Fan von Daniel Kahneman und seinem verstorbenen Kollegen Amos Tversky. Seit ich als Junior Consultant bei BCG Ende 1985 einen Discover-Artikel erhielt, in dem ihre frühesten Erkenntnisse brillant referiert waren, verfolge ich ihre Arbeit, und nur wenige Forscher haben mein psychologisches Denken so sehr beeinflusst wie diese beiden israelischen Psychologen und Mathematiker. Insofern habe ich mich ein wenig bestätigt gefühlt, als Kahneman 2002 den Nobelpreis erhielt. Und fand es anrührend, wie Kahneman in seiner Einführung von seiner Zusammenarbeit mit dem allzu früh verstorbenen Kollegen und Freund erzählt, dem er dieses Buch gewidmet hat.

Ich bin also ohne Zweifel voreingenommen. Aber hohe Erwartungen erhöhen auch das Risiko, enttäuscht zu werden. Umso mehr freue ich mich, feststellen zu können, dass mich selten ein Buch so begeistert hat wie dieses. Kahneman legt hier nicht nur in klarer, völlig unprätentiöser Sprache ein Resümee seines eigenen Denkens und dessen seiner Forscherkollegen vor, sondern er integriert es auch in bravouröser Weise in den aktuellen Stand der, wie man es früher genannt hätte, Denkpsychologie. Und er tut das auf eine Weise, die einem nicht nur ein überaus schlüssiges Gesamtbild liefert, wie Menschen denken, urteilen und entscheiden, sondern einen darüber hinaus immer wieder auch anregt, das eigene Denken zu beobachten und zu reflektieren. Auf diese Weise ist "Thinking, Fast and Slow" ein exzellentes Fachbuch und Anstoß zur systematischen Selbstreflexion in einem.

Als ob das nicht genug wäre, kann man Kahnemans Buch noch ein Weiteres bescheinigt werden: Der empirischen Psychologie wird ja mit Recht vorgehalten, zwar viele empirisch gut abgesicherte "Midrange Theories" hervorgebracht zu haben, die Teilaspekte menschlichen Denkens und Handelns wie zum Beispiel Reaktanz oder kognitive Dissonanz erklären, aber keine umfassende Theorie zu besitzen, die die wachsende Zahl von Puzzlesteinchen zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammenfügt. Kahnemans Werk liefert genau das: Die Skizze zu einer umfassenden Theorie menschlichen Denkens, Urteilens und Entscheidens. Zwar gibt es Aspekte, auf die Kahneman dabei nicht oder zumindest nicht ausführlich eingeht, wie zum Beispiel die Rolle und die Funktionsweise von Emotionen – aber diese Aspekte können nachträglich integriert werden: Sie werden das Bild nicht umstoßen, sondern nur erweitern und verfeinern.

Daniel Kahneman selbst beschreibt die Intention seines Buchs so: "This book is not intended as an exposition of the early research Amos and I conducted together, a task that has been ably carried out by many authors over the years. My main aim here is to present a view of how the mind works that draws on recent development in cognitive and social psychology. One of the more important developments is that we now understand the marvels as well as the flaws of intuitive thought." (S. 10)

Die 38 handlichen Kapitel des Buchs verteilen sich auf fünf Hauptteile, die jeweils eigenen Themenfeldern gewidmet sind: "Two Systems", "Heuristics and Biases", "Overconfidence", "Choices" und schließlich "Two Selves". Der erste Teil basiert nicht primär auf die Arbeiten von Kahneman, Tversky und Kollegen, sondern liefert deren gedanklichen Rahmen: Die Unterscheidung von zwei Arbeitsmodi unseres Gehirns. Da ist zum einen "System 1" mit seinem schnellen, mühelosen Denken, das uns zum Beispiel blitzschnell und ohne jede Anstrengung die richtige Antwort liefert, wenn wir an die Hauptstadt Frankreichs denken. Und da ist zum anderen "System 2" mit seinem deutlich langsameren und mühevolleren Denken, das wir bemühen müssen, wenn wir beantworten sollen, was 17 x 24 ist.

Wie grundlegend Kahneman diese Unterscheidung findet, lässt sich daran erkennen, dass er sie zum Titel seines Buchs gemacht hat. Und in der Tat liegt im Zusammenspiel dieser beiden Systeme sowohl unsere Fähigkeit begründet, effizient mit unserer sachlichen und sozialen Umwelt umzugehen, als auch die Quelle der meisten jener Denk- und Entscheidungsfehler, denen Kahneman und Tversky den Großteil ihres Forscherlebens gewidmet haben. Kahnemans Resümee: "In the picture that emerges from recent research, the intuitive System 1 is more influential than your experience tells you, and it is the secret author of many of the choices and judgments you make." (S. 13) Vor allem liefert uns System 1 die Wahrnehmung und Deutung der Realität, auf deren Basis System 2 seine vermeintlich rationalen Entscheidungen trifft.

Im Alltag überlassen wir uns weitgehend dem System 1 und fahren sozusagen auf Autopilot: Wenn wir dem allmorgendlichen Weg ins Büro folgen, Auto fahren, eine Routineaufgabe erledigen, tun wir das ohne bewusstes Nachdenken. Nur wenn der Autopilot nicht mehr weiter weiß, weil eine Straße gesperrt ist oder 17 x 24 gelöst werden soll, aktiviert er System 2. Das sucht nach einer Lösung für das Problem – und gibt dann wieder an wieder an den "Autopiloten" ab. System 2 ist, anthropomorph gesprochen, ziemlich faul – was biologisch wohl damit zusammenhängt, dass es viel Energie verbraucht. Deshalb tut es in der Regel nicht mehr als nötig: Es setzt weitgehend ungeprüft auf den Prämissen von System 1 auf, neigt zu schnellen Schlüssen auf und ist auch ansonsten bestrebt, seine Aufgaben mit geringstmöglichem Aufwand zu lösen. Dabei passieren systematische, vorhersagbare Fehler, die Kahneman in den folgenden Teilen des Buchs näher beschreibt und analysiert.

Im zweiten Teil "Heuristics and Biases" erläutert er, welche Faustregeln und Abkürzungen System 2 verwendet, um Probleme zu lösen, und welche "Vorlagen" es von System 1 dafür bekommt. Eine entscheidende Fehlerquelle ist, dass sich System 2 voll auf die Informationen verlässt, die ihm System 1 zuliefert. Es zieht nicht in Erwägung, dass diese Informationen könnten unvollständig oder fehlerhaft sein könnten, sondern nimmt sie als erschöpfendes Gesamtbild – was Kahneman auf die Formel WYSIATI bringt: "What you see is all there is." Deshalb läuft System 2 ständig Gefahr, seine Entscheidungen und Urteile auf unvollständigen oder fehlerhaften Prämissen aufzubauen – und deshalb völlig daneben zu liegen. Dieses WYSIATI kehrt im weiteren Verlauf des Buchs häufig wieder: Unser Gehirn ist offenkundig "a machine for jumping to conclusions" (Kap. 7) – prädestiniert für voreilige Schlussfolgerungen.

Tückisch ist dabei zum Beispiel eine Urteilstendenz, die Kahneman "Substitution" nennt: Wenn wir mit einer schwierigen Frage konfrontiert sind, wie etwa, ob ein neues Produkt im Markt erfolgreich sein wird, neigen wir dazu, diese Frage unmerklich durch eine andere Frage zu ersetzen, die der ersten ähnlich scheint, aber leichter zu beantworten ist – wie zum Beispiel, ob das neue Produkt uns gefällt. Das ist ohne Zweifel einfacher zu beantworten – aber es ist leider nicht dasselbe. In ähnlicher Weise substituieren wir die schwierige Frage, ob ein Bewerber der Richtige für unsere Firma ist, durch die Frage, ob er uns sympathisch ist und einen guten Eindruck macht. Auch das Thema Kulturveränderung ist anfällig für Substitution: Allzu statt der Frage, welche Kultur eine Firma braucht, um in ihrem Geschäft erfolgreich zu sein, die Frage beantwortet, welche Kultur sich die Mitarbeiter und Führungskräfte denn wünschen. Und das muss keineswegs dasselbe sein.

Anschaulich und anhand vieler Experimente und praktischer Beispiele erläutert Kahneman, wie Ankereffekte unser Urteil unbemerkt verzerren, wie die spontane Verfügbarkeit (availability) von Beispielen unsere Einschätzungen beeinflusst und welche Schwierigkeiten wir immer wieder mit statistischen Zusammenhängen haben. Gleich ob es um voreilige Schlussfolgerungen aus zu kleinen Stichproben geht, zu denen selbst erfahrene Wissenschaftler neigen, um die Regression zum Mittelwert, die uns zu sehr viel vorsichtigeren Prognosen veranlassen müsste, oder um simple Baseline-Effekte: Unsere Intuition lässt uns hier nicht bloß im Stich, sondern verleitet uns zu systematischen Fehlurteilen. Wenn wir etwa von einer jungen Frau wissen, dass sie intelligent, schüchtern und ein wenig verträumt ist und außerdem sehr gerne liest, ist es dann wahrscheinlicher, dass sie Bibliothekarin ist oder Bankangestellte? Bei ihrer spontanen Antwort berücksichtigt unsere Intuition in keiner Weise, um wie viel mehr Bankangestellte es gibt als Bibliothekare.

Noch mehr ans Eingemachte geht Kahneman im dritten Teil "Overconfidence". Im Kapitel "The Illusion of Understanding" zeigt er auf, dass unser Glaube, die Vergangenheit zu verstehen, nicht viel mehr eine tröstliche Illusion ist. Sie entsteht im Wesentlichen dadurch, dass es uns gelungen ist, eine halbwegs konsistente Geschichte zu konstruieren, welche den Gang der Ereignisse schlüssig zu erklären scheint. Deshalb ist es im Nachhinein oft täuschend leicht vorherzusagen, wie es "kommen musste" – eine Tatsache, die Vorgesetzte, Gerichte und Medien oftmals dazu verleitet, die "Fahrlässigkeit" oder "Unverantwortlichkeit" eines Handelns zu brandmarken. Doch die wenigsten dieser Ex-Post-Prognostiker haben das Ereignis vorhergesehen, bevor es sich ereignete. Und leider folgt aus der Tatsache, dass wir die Vergangenheit überzeugend "vorhersagen" können, keineswegs, dass wir dazu in der Lage wären, künftige Entwicklungen vorherzusehen. Offenbar müssen wir das Ergebnis kennen, um es zutreffend erklären zu können – was natürlich massive Zweifel an der Aussagekraft und dem Nutzen unserer "Erklärungen" weckt.

Zu der "Illusion of Understanding" kommt die "Illusion of Validity". Ihr unterliegen zum Beispiel Führungskräfte, die bei der Personalauswahl "ein sehr gutes Gefühl" haben, also meinen, genau den richtigen Kandidaten ausgewählt zu haben, aber auch Diagnostiker, die versuchen, die zukünftige Leistung oder das Verhalten ihrer Probanden vorherzusagen, desgleichen Fondsmanager bei der Auswahl ihrer Investments und Politik-Experten, die regelmäßig Vorhersagen künftiger politischer Entwicklungen abgeben. Nachträgliche Untersuchungen der Validität – also der Bewährung – solcher Prognosen erbringen regelmäßig, dass sie kaum besser als der Zufall sind, manchmal sogar schlechter. Aber solche Befunde werden entweder ignoriert oder bestritten oder verdrängt; sie können die felsenfeste Überzeugung der Experten nicht erschüttern, eine exzellente Wahl getroffen zu haben.

"It's not the experts' fault – the world is unpredictable", stellt Kahneman dazu tröstend fest, und leitet zwei Erkenntnisse daraus ab: "Errors of prediction are inevitable because the world is unpredictable. The second lesson is that high subjective confidence is not to be trusted as an indicator of accuracy (low confidence could be more informative)." (S. 220) Da klingt mir der alte Rupert Lay in den Ohren, der immer wieder den Unterschied zwischen Wahrheit und Gewissheit betont hat: "Gewissheit sagt nichts über den Wahrheitsgehalt einer Aussage. Sie beschreibt lediglich den psychischen Zustand, deren Wahrheitsgehalt nicht mehr bezweifeln zu können." Nun haben wir es also amtlich.

Trotzdem ist natürlich die ultimative Beleidigung für jeden Experten, was Paul Meehl schon 1957 nachgewiesen hat und was seither vielfach bestätigt wurde: Dass simple Algorithmen dem Urteil erfahrener Kliniker in vielen Fällen überlegen sind. Und zwar gerade deshalb, weil Kliniker oft zu sehr "aus dem Bauch heraus" urteilen und dabei wichtige ihnen bekannte Fakten außer Acht lassen. Außerdem überschätzen sie ihre Fähigkeit zu längerfristigen Prognosen: Weil sie die Erfahrung haben, sehr gut einschätzen zu können, wie Klienten kurzfristig auf ihre Interventionen reagieren, glauben sie offenbar, auch deren späteres Verhalten gut vorhersagen zu können.

Trotzdem stimmt Kahneman nicht in Nassim Talebs (Der schwarze Schwan) pauschale Abqualifizierung von Experten ein, der sie ebenso selbstgerecht wie apodiktisch als "leere Anzüge" beschimpft. Vielmehr gibt er im 22. Kapitel einen spannenden Bericht über ein gemeinsames Forschungsprojekt mit dem Psychologen Gary Klein, der die Entscheidungen erfahrener Professionals wie zum Beispiel von Feuerwehrleuten studiert hat und eine sehr hohe Meinung von ihren Intuitionen hegt. Klein hatte ihn wegen seiner Kritik an der Expertenintuition scharf kritisiert; Kahneman bot ihm darauf an, den Dissens über eine "adversarial collaboration" zu klären. Darüber berichteten sie 2009 nach vielen Diskussionen und Analysen in einem gemeinsamen Artikel "Conditions for intuitive expertise: A failure to disagree". Als Knackpunkt für den Erwerb professioneller Meisterschaft stellten sich dabei zwei Bedingungen heraus: "An environment that is sufficiently regular to be predictable" und "an opportunity to learn these regularities through prolonged practice" (S. 240) – was insbesondere bedeutet: Schnell ein aussagekräftiges Feedback zu erhalten, was funktioniert hat und was nicht. Nur wenn beide Bedingungen erfüllt sind, können Experten eine treffsichere Intuition entwickeln.

Overconfidence steckt auch hinter den verbreiteten Planungsfehlern im Projektmanagement. Hier wird der Gesamtaufwand üblicherweise errechnet, indem man das Gesamtprojekt in Teilprojekte und Arbeitspakete zerlegt, deren jeweiligen Aufwand schätzt und die Ergebnisse addiert. Der Gesamtaufwand ergibt sich so im Wesentlichen aus der Summe der "Best Cases" der einzelnen Teilbausteine – ein Zusammentreffen, das umso unwahrscheinlicher wird, je größer das Projekt ist. Selbst wenn dabei noch ein Puffer für Unvorhergesehenes (die "known unknowns") vorgesehen wird, kalkuliert die Planung keine fundamentalen Überraschungen (die "unknown unknowns") ein. Doch mit wachsender Projektgröße steigt deren Wahrscheinlichkeit. Dem könnte man nur mit einem "Reference Class Forecasting" entgegenwirken, doch die wenigsten Planer beziehen in ihre Berechnungen ein, wie lange vergleichbare Projekte in der Vergangenheit gedauert haben und wie hoch ihre Zeit- und Kostenüberschreitungen waren.

Vielleicht ist übertriebene Zuversicht ja wirklich, wie Kahneman im 24. Kapitel philosophiert, "The Engine of Capitalism": Ein ins Irreale gehender Optimismus, der Menschen dazu bringt, Vorhaben in Angriff zu nehmen, an denen viele andere schon gescheitert sind: "The evidence suggests that an optimistic bias plays a role – sometimes the dominant role – whenever individuals take on significant risks. More often than not, risk takers underestimate the odds they face, and do not invest sufficient effort to find out what the odds are. (…) Their confidence in their future success sustains a positive mood that helps them obtain resources from others, raise the morale of their employees, and enhance their prospects of prevailing. When action is needed, optimism, even of the mildly delusional variety, may be a good thing." (S. 256) Im Einzelfall kann das ein gewagtes Spiel sein. Übertrieben optimistische CEOs sind sogar ein Risiko für ihre Firmen und Shareholder. Doch selbst wenn Einzelne auf der Strecke bleiben: In Summe treibt Overconfidence die Entwicklung voran – allerdings auch das gesellschaftliche Eingehen unkalkulierbarer Risiken.

Im vierten Teil "Choices" geht es dann um die Erkenntnisse, für die Kahneman den Nobelpreis bekommen hat: die Prospect Theory – was sich ins Deutsche nur etwas sperrig als "Erwartungstheorie" übersetzen lässt, oder auch als "Theorie unterschiedlicher Perspektiven". Ihr Ausgangspunkt war die Feststellung, dass die Nutzenfunktionen (utility functions), auf die die Ökonomie ihre Erklärungsmodelle aufbaut, empirisch nicht haltbar sind. Dieses Modell kann zum Beispiel nicht erklären, weshalb wir Menschen einerseits systematisch den sicheren kleinen Gewinn (den "Spatz in der Hand") dem möglichen großen Gewinn (der "Taube auf dem Dach") vorziehen, andererseits risikobereit werden und "alles auf eine Karte setzen", wenn es um die Abwendung eines drohenden Verlusts geht.

Referenzpunkte werden von der ökonomischen Theorie ignoriert, spielen für das reale Verhalten aber eine entscheidende Rolle: "You just like winning and dislike losing – and you almost certainly dislike winning more than you like winning." (S. 281) Das führt dazu, dass die Utility-Funktion in ihrem negativen Teil eine etwa doppelt so große Steigung hat wie im positiven: "Losses loom larger than gains", stellt Kahneman fest (S. 282) und verweist darauf, dass das seinen evolutionären Sinn hat: Lebewesen, die Risiken größere Bedeutung beigemessen haben als Chancen, hatten bessere Aussichten, zu überleben und sich zu reproduzieren.

Wie wichtig Referenzpunkte sind, zeigt sich an den beliebten Indifferenzkurven der Ökonomie. Sie sind beschrieben als die Menge aller Punkte, bei denen die Abwägung zwischen zwei Gütern – zum Beispiel zwischen mehr Freizeit oder mehr Einkommen – sozusagen "unentschieden" ausgeht. Beispielsweise sind die meisten Menschen bereit, für ein höheres Einkommen ein Stück Freizeit zu opfern, aber nicht beliebig viel. Umgekehrt wären sie bereit, für ein Mehr an Freizeit etwas von ihrem Einkommen zu opfern, aber nicht beliebig viel. Die Menge der Punkte, die jeweils als gleichwertig angesehen werden, nennt man Indifferenzkurve.

In der ökonomischen Theorie sind diese Indifferenzkurven schöne, glatte hyperbolische Funktionen – in der Empirie macht der Referenzpunkt die schöne Kurve kaputt. Denn gleich wo sich ein Mensch aktuell auf dieser Kurve befindet, mit hoher Wahrscheinlichkeit hat er sich auf diesem Punkt "häuslich eingerichtet". Infolgedessen müsste man ihm deutlich mehr Geld bieten, damit der bereit ist, auf seinen heutigen Besitzstand an Freizeit zu verzichten, bzw. man müsste ihm deutlich mehr Freizeit bieten, damit er bereit ist, auf seinen heutigen Besitzstand an Einkommen zu verzichten: "Losses loom larger than gains". Deshalb hat die schöne Hyperbel um den Referenzpunkt herum eine hässliche Beule. Und das, wie sich experimentell zeigen lässt, selbst dann, wenn der Referenzpunkt nicht selbstgewählt, sondern vom Zufall bestimmt war. Kahneman nennt das den "Status Quo Bias": Wir haben eine starke Neigung, bei dem zu bleiben, was wir haben, und bewerten das, was wir durch eine Veränderung gewinnen können, niedriger als das, was wir durch sie verlieren.

Aber der Referenzpunkt-Effekt ist keineswegs die einzige Beule, die die Empirie den ökonomischen Modellen zufügt. Auch mit Wahrscheinlichkeiten gehen wir auf recht eigenwillige Weise um: "The decision weights that people assign to outcomes are not identical to the probabilities of these outcomes, contrary to the expectation principle. Improbable outcomes are overweighed – this is the possibility effect. Outcomes that are almost certain are underweighted relative to actual certainty. The expectation principle, by which values are weighted by their probability, is poor psychology." (S. 312) Bei kleinen Risiken und kleinen Chancen kommt dazu, dass unser Umgang mit ihnen zwiespältig ist. Häufig werden sie völlig ignoriert – "On the other hand, when you do not ignore the rare events, you will certainly overweight them." (S. 315f.) Das erklärt sowohl, weshalb wir die persönliche Bedrohung zum Beispiel durch Terroranschläge oder durch Pandemien maßlos überschätzen – als auch, weshalb Menschen Lotto spielen. Wobei Kahneman für Letzteres noch eine hübsche Zusatzerklärung anbietet: Mit einem Lottoschein kaufen wir uns das Recht, von Reichtum zu träumen.

Die Prospect Theory hat vielfältige Implikationen, die zu referieren endgültig den Rahmen einer Rezension sprengt – von unterschiedlichen Neigungen, sich bei Gerichtsverhandlungen auf einen Vergleich einzulassen, über die dramatischen Auswirkungen des "Framing", das heißt der Formulierung der Entscheidungsalternativen, bis hin zu einer bewussten "Risk Policy", die sich darum bemüht, die langfristig nachteilige Risikoscheu wenigstens teilweise durch eine bewusste Strategie zu kompensieren. Das lohnt sich nicht nur zu lesen, es lohnt sich sogar, es mehrfach zu lesen, weil man es auf einmal kaum verarbeiten, durchdringen und verinnerlichen kann.

Im fünften und letzten Teil "Two Selves" untersucht Kahneman, nach welchen Kriterien wir unsere Entscheidungen treffen und letztlich unser Leben gestalten. Das ökonomische Konzept des Nutzens (utility) hilft hier nicht weiter, weil es empirisch keine einheitliche, konsistente Nutzenfunktion gibt. Vielmehr gibt es zweierlei Arten von Nutzen: den erlebten und den erinnerten. Und – wen wundert's an dieser Stelle noch? – die beiden gehen deutlich auseinander. Gleich ob es Schmerz oder Freude ist, für das "erlebende Selbst" zählt der Moment, und es zählt die Dauer, wie lange ein Zustand anhält. Das "erinnernde Selbst" hingegen ignoriert die Dauer ("duration neglect") und orientiert sich allein an zwei Kriterien, nämlich dem Spitzenwert und dem Ausgang eines Erlebens ("peak-end-rule").

Das führt zu grotesken Ergebnissen: Wenn Menschen ihre Hand eine Minute in eiskaltes Wasser halten müssen und danach eine halbe Minute in nicht mehr ganz so kaltes, behalten sie das Erlebnis in angenehmerer Erinnerung als wenn es nach der Minute in eiskaltem Wasser endet – und das, obwohl die "Summe der erlebten Schmerzen" im ersten Fall höher war als im zweiten. Wenn Versuchspersonen beide Varianten erlebt haben, wählen sie, vor die Wahl gestellt, durchgängig die längere, weil sie sie aufgrund des milderen Endes offenbar insgesamt in besserer Erinnerung haben. Umgekehrt kann ein schlechtes Ende ein über weite Strecken positives Erlebnis überschatten. Bei Scheidungen beispielsweise werden die glücklichen Monate oder Jahre weitestgehend von dem bitteren Ende überlagert: Auch das ein typischer Fall von "Duration Neglect".

Aus dieser "Peak-End-Rule" ergibt sich eine unmittelbare Konsequenz (nicht nur) für zahnärztliche Behandlungen: "If the objective is to reduce the patients' memory of pain, lowering the peak intensity could be more important than minimizing the duration of the procedure. By the same reasoning, gradual relief may be preferable to abrupt relief." (S. 380) Gänzlich anders wäre das optimale Vorgehen, wenn das Ziel wäre, die Schmerzen des "erlebenden Selbsts" zu minimieren: Dann wäre ein kurzer, intensiver Schmerz möglicherweise besser als ein geringerer, der sich lange hinzieht.

Das führt zu der geradezu verstörenden Frage: "Which self should count?" (S. 381) Kahneman liefert viele Indizien dafür, dass wir unser Leben mehr nach der Optimierung künftiger Erinnerungen gestalten als danach, das Hier und Jetzt zu genießen. Im Urlaub beispielsweise verwenden viele Menschen mehr Zeit und Energie darauf, das Gesehene in Bild und Ton zu dokumentieren, als darauf, es zu erleben. Auch bei der Wahl des Urlaubsortes nehmen viele Strapazen auf sich, die sie in der Arbeit als unzumutbar zurückweisen würden, um den "Peak" zu optimieren: "We all care intensely for the narrative of our own life and very much want it to be a good story, with a decent hero." (S. 387) Das führt zu einem geradezu verrückten Ergebnis: "It is the remembering self that chooses vacations." (S. 389) Aber Kahnemans Resümee geht noch einen Schritt weiter: "I am my remembering self, and the experiencing self, who does my living, is like a stranger to me." (S. 390)

Das berührt sehr grundlegende Fragen der Lebensgestaltung – und zugleich liefert es auch eine Antwort darauf, weshalb die Glücksforschung wiederkehrend zu dem Befund kommt, dass die Lebenszufriedenheit ab einem gewissen Wohlstandsniveau nicht mehr ansteigt: Wir neigen im Alltag dazu, den emotionalen Nutzen neuer Anschaffungen zu überschätzen, weil wir die falsche Frage beantworten. Auf die Frage, wie viel Freude uns unser neues Auto macht, denken wir an das Auto und seine vielen positiven Merkmale – und beantworten die Frage: "How much pleasure do you get from your car when you think about it?" (S. 404) Wenn wir aber im Auto sitzen, denken wir aber den größten Teil der Zeit nicht an das Auto, sondern sind eher mit der Frage beschäftigt, wie wir rechtzeitig zu unserem Ziel kommen, obwohl wir mal wieder zu spät losgefahren sind. Das heißt, real erleben wir nicht Genuss, sondern Stress. Außer wenn wir explizit an den Neuwagen denken. Aber: "Nothing in life is as important as you think when you think about it." (S. 402) Kahneman nennt das den "Error of Affective Forecasting", der uns dazu verleitet, uns das Falsche zu wünschen ("Miswanting"): Wir überschätzen die Freuden, die wir von Konsumausgaben haben werden.

Umgekehrt gibt er auch einen Hinweis darauf, was wirklich glücklich macht: "It is only a slight exaggeration to say that happiness is the experience of spending time with people you love and who love you." (S. 395) (Und so jemand hat den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften bekommen …) Im letzten Kapitel "Conclusions" reißt er an, welche Implikationen für die persönliche Lebensführung, aber auch für Gesellschaft und Politik haben könnten – und stützt sich dort auf zwei alte Bekannte, die Verhaltensökonomen Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein und ihr Buch "Nugde" (siehe Rezension). Denn wenn es wahr ist, dass Menschen keineswegs ihre Entscheidungen keineswegs in so kühler Reflexion ihres Nutzens treffen wie es die Ökonomie unterstellt, dann ergibt es ja wenig Sinn, unser gesellschaftliches Zusammenleben auf der Basis einer empirisch falschen Theorie zu organisieren; das würde nur unbegrenzte Spielräume für Manipulation und Ausnutzung eröffnen. Deshalb sympathisiert Kahneman mit dem "Libertarian Paternalism", den Thaler und Sunstein propagieren.

Insgesamt ein großartiges Buch – eines der besten, das ich jemals in Händen hatte. Geradezu unglaublich, dass Kahneman, wie er in seiner Einführung bekennt, lange gezweifelt hat, ob dieses Manuskript überhaupt einer Veröffentlichung wert ist! Aber es unterstreicht, wie er auch im Buch betont, dass Gewissheit kein Indikator für den Wahrheitsgehalt einer Aussage ist, und dass umgekehrt mangelnde Gewissheit kein Indiz für die unzureichende Qualität einer Arbeit, sondern eher ein Indikator für die selbstkritische Grundhaltung ihres Urhebers. Wenn es nicht so anstrengend und freudlos klänge, würde ich das Buch absolut zur Pflichtlektüre für alle erklären, die sich für menschliches Verhalten interessieren. Aber das ist einer der glücklichen Fälle, wo Pflicht, Freude und geistige Bereicherung Hand in Hand gehen.

Schlagworte:
Denken, Entscheiden, Denkpsychologie, Entscheidungspsychologie, Intuition, Urteilen

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