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Weshalb massive Kostenüberschreitungen die Regel sind

Flyvbjerg, Bent (2009):

Survival of the Unfittest

Why the worst infrastructure gets built – and what we can do about it

Oxford Review of Economic Policy, Vol. 35; 24 S. (344 - 367)


Nutzen / Lesbarkeit: 10 / 9

Rezensent: Winfried Berner, 03.12.2012

Der Hauptgrund für massive Kostenüberschreitungen bei den meisten Großprojekten ist, dass die zugrunde gelegten Kosten- und Nutzenschätzungen von vornherein "politische Zahlen" waren, die in erster Linie der Durchsetzung dieser Projekte dienten.

Durch Daniel Kahnemans großartiges Buch "Thinking, Fast and Slow" bin ich auf Bent Flyvbjerg aufmerksam geworden, einen dänischen Forscher, der mittlerweile an der Said Business School in Oxford lehrt und sich intensiv mit den Kostenüberschreibungen von Großprojekten befasst hat. Flyvbjerg hat eine Datenbank mit 258 Großprojekten in 20 Ländern aus den letzten 70 Jahren aufgebaut und an ihnen systematisch untersucht, wie weit die ursprüngliche Kostenkalkulation von der endgültigen abwich und wie es um den vorhergesagten Nutzen dieser Projekte stand.

Danach dürfen wir uns auf einiges gefasst machen, was Großprojekte wie Stuttgart 21, den Berliner Flughafen oder die zweite S-Bahn-Stammstrecke in München betrifft. Nur in etwa 10 Prozent der Fälle bleiben solche Projekte in ihrem Kostenrahmen; der Normalfall sind Kostenüberschreitungen von 44,7 Prozent bei Bahnstrecken und 33,8 Prozent bei Brücken und Tunnels – wobei die Rekordhalter weit darüber liegen. Dafür ist aber der Nutzen bei Bahnprojekten im Schnitt nur halb so hoch wie veranschlagt, was unter dem Strich bedeutet, dass das Kosten-Nutzen-Verhältnis dramatisch schlechter ist als bei der Bauentscheidung angenommen. Etwas besser kommen Straßenbauprojekte weg: Hier liegt die durchschnittliche Kostenüberschreitung "nur" bei 20,4 Prozent.

Ähnliche Muster finden sich laut Flyvbjerg auch bei anderen Großprojekten, gleich ob es um Bauwerke, IT-Projekte oder Flugzeugentwicklung geht, um Rüstungsprojekte, Olympiaden oder Weltmeisterschaften, um Staudämme, Kraftwerke, Öl- und Gasförderung, Bergbau, Industrieanlagen, Großforschungsprojekte oder Stadt- und Regionalentwicklungsprogramme. Dabei kam Flyvbjerg gar nicht an alle Kostenüberschreitungen heran: "Ideally financing costs, operating costs and maintenance costs would be included in a study of costs. It is difficult, however, to find valid, reliable, and comparable data on these types of costs across larger numbers of projects." (S. 346) Dass zum Beispiel beim Rhein-Main-Donau-Kanal schon nach 20 Jahren die Schleusen generalsaniert werden müssen, was zu einer einjährigen Unpassierbarkeit führt, war mit Sicherheit weder in der Kosten- noch in der Nutzenkalkulation vorgesehen.

In seinem sehr gründlichen Artikel geht Flyvbjerg den Ursachen dieser Kostenüberschreitungen (und Nutzenunterschreitungen) nach. Prinzipiell kommen drei Arten von Gründen in Betracht: Technische, psychologische und politische bzw. ökonomische. Glasklar stellt er fest: "The data (…) lead us to reject the technical explanation of forecasting inaccuracy." (S. 350) Denn Planungsfehler sollten einigermaßen zufallsverteilt sein; der Mittelwert der wahren Kosten liegt aber weitab von den Planzahlen. Auffällig ist auch, dass trotz erheblicher Investitionen in die Planungsmethodik über die Jahre keine Verbesserung der Vorhersagegüte festzustellen ist.

Psychologische Erklärungen wie die von Kahneman, Tversky und Kollegen entdeckte "Planning Fallacy" und der "Optimism Bias" vertragen sich schon besser mit den Daten. Trotz aller bösen Überraschungen aus früheren Projekten gehen die Planer standhaft jedes Mal wieder davon aus, dass bei dem neuen Projekt (fast) alles glatt gehen wird. Trotzdem hält Flyvbjerg psychologische Faktoren für eine unzureichende Erklärung. Denn in einem professionellen Umfeld sollten 70 Jahre Erfahrung reichen, um die gröbsten Selbsttäuschungen in den Griff zu bekommen. Nach den Daten kann davon aber keine Rede sein: Ein Lernen aus Erfahrung, das zu besseren Schätzungen führt, findet offenkundig nicht statt.

Offenbar sind es also hauptsächlich politische bzw. ökonomische Gründe sowie "gezielt unzutreffende Darstellungen" (strategic misrepresentations), die für den Großteil der Kostenüberschreitungen verantwortlich sind. In der Tat sind ja sowohl die Verfechter von Großprojekten als auch die Planungsverantwortlichen meist keine neutralen Instanzen, sondern Partei: Sie wollen das Projekt politisch durchsetzen, und dafür ist es erforderlich, dass der Nutzen möglichst groß und die Kosten möglichst niedrig sind. Sie haben auch die Macht, das durchzusetzen, indem sie nachgeordnete Stellen anweisen, "die Luft aus der Planung zu lassen" und den Nutzen noch einmal "unter realistischeren Annahmen" durchzurechnen – sprich, unter Annahmen, die zum gewünschten Ergebnis führen.

Nur die Macht, den höheren Nutzen und die niedrigen Kosten auch Wirklichkeit werden zu lassen, haben sie nicht. Aber das schadet ihnen nicht, denn zu dem Zeitpunkt, wo das sichtbar wird, ist das Vorhaben längst so weit fortgeschritten, dass man es kaum noch abbrechen kann – siehe Elbphilharmonie oder Berliner Flughafen. Und persönliche Konsequenzen hat kaum jemand zu befürchten. Mit hörbarem Zorn beschreibt Flyvbjerg den "Survival of the Unfittest": Auf diese Weise werden systematisch Großprojekte realisiert, von denen zwar die Mitwirkenden profitieren, deren volkswirtschaftlicher Nutzen aber negativ ist. Die Rechnung bezahlt der Steuerzahler – und die ökologischen Kollateralschäden sind in diesem Preis noch nicht inbegriffen.

In Interviews mit operativen Planern ging Flyvbjerg der Frage nach, wie solche groben Planungsfehler entstehen. Das Resultat bestätigt, was zu befürchten war: Die Planer haben größte Schwierigkeiten, mit ihren Schätzungen bei höheren Ebenen Gehör zu finden. Denn jede "Verehrlichung" der Zahlen reduziert die Wahrscheinlichkeit, das Projekt politisch durchzubekommen. Manche Planer halten ihr Wissen aber auch zurück, um das Projekt, an dem sie ja auch selbst interessiert sind, nicht in Gefahr zu bringen. Auf Deutsch: Die bestehenden Anreizstrukturen machen es für (fast) alle Beteiligten vernünftig, mit geschönten Zahlen zu operieren. Was auch (fast) alle Beteiligten wissen, aber natürlich nicht aussprechen. Ähnliche Studien in den USA erbrachten übereinstimmende Ergebnisse. Im Wettrennen mit konkurrierenden Projekten lautet die Erfolgsformel: "Unterschätzung der Kosten + Überschätzung des Nutzens = Finanzierung". Oder: Wer am meisten schummelt, gewinnt.

Wenn die Planer daran interessiert wären, die Planungsqualität zu verbessern, wäre die Lösung einfacher: Dann könnte man sich auf eine Methodik stützen, die ebenfalls auf Daniel Kahneman zurückgeht: das sogenannte "Reference Class Forecasting". Dazu zieht man vergleichbare Projekte heran, die bereits abgeschlossen sind, und orientiert seine Kostenschätzung an dieser Referenz. Tatsächlich zeigen Forschungen, so Flyvbjerg, "that when people are asked simple questions requiring them to take an outside view, their forecasts become significantly more accurate." (S. 356) Aber solche methodischen Verbesserungen sind natürlich ungeeignet, um die bestehenden Anreize aufzuheben. Solange sich an den Anreizen zum Schummeln nichts ändert, werden diese Methoden entweder gar nicht verwendet oder, falls erzwungenermaßen, auf tendenziöse Weise.

Die politische Realität der Planung beschreibt Flyvbjerg knochentrocken so: "Forecasting is here mainly another kind of rent-seeking behaviour, resulting in a make-believe world of misrepresentation which makes it extremely difficult to decide which projects deserve undertaking and which do not." (S. 358) Der entscheidende Hebel ist daher nicht, den Planern bessere Instrumente an die Hand zu geben, sondern die Anreize zu beschönigender Planung zu beseitigen: "Better forecasting techniques and appeals to ethics will not do here; organizational change with a focus on transparency and accountability is necessary." (S. 358) Der politische Schlüssel zur Lösung liegt in einer Kombination von (a) anderen Entscheidungsprozessen und (b) veränderten Anreizen.

Flyvbjerg spricht sich deshalb für mehr Transparenz und öffentliche Kontrolle aus, aber auch für mehr Wettbewerb und Kontrolle durch den Markt. Zu seinen vielen spezifischen Vorschlägen zählt unter anderem, die Kosten- und Nutzen-Kalkulation nicht den Projektbefürwortern zu überlassen, sondern sie in die Hand von neutralen Stellen wie den Finanzministerien zu legen. Zusätzlich sollten die Kalkulationen einem Peer-Review unterworfen und einem Reference-Class-Forecasting unterzogen werden. Bei öffentlichen Projekten sollten diese Kalkulationen der Öffentlichkeit und den Medien zugänglich und zum Gegenstand einer breiten Bürgerbeteiligung gemacht werden. Und nicht zuletzt sollten Planer, die zum wiederholten Male irreführende Planungen vorgelegt haben, berufsständische und gegebenenfalls auch strafrechtliche Sanktionen erfahren. Immerhin können solche Planer, wie Flyvbjerg in Anlehnung Nassim Nicholas Taleb feststellt, der Gesellschaft mehr Schaden zufügen als Kriminelle.

Als marktwirtschaftlichen Anreiz fordert Flyvbjerg unter anderem, die Planer und ihre Firmen an Kostenüberschreitungen und Nutzenunterschreitungen zu beteiligen. Vor allem aber müssten öffentliche Stellen bei der Vertragsgestaltung professioneller werden. Wo immer möglich, sollten große Infrastrukturprojekte außerdem von der finanziellen Beteiligung privater Geldgeber abhängig gemacht werden. Wenn sie mit mindestens einem Drittel der Gesamtkosten im Risiko sind, wäre gewährleistet, dass nur Projekte realisiert werden, die diesen "Markttest" passieren – und etliche Großprojekte wären unter dieser Bedingung auf der Stelle tot. Was sowohl für die Staatsfinanzen als auch für die Gesellschaft und die Umwelt in aller Regel die bessere Lösung wäre.

Noch verheerender als Infrastruktur-Projekte schneiden offenbar IT-Großprojekte ab. Wie eine Pilotstudie zeigte, scheinen die Kostenüberschreitungen hier mit der Projektgröße zu korrelieren und bei wirklich großen Projekten mühelos 300 bis 400 Prozent zu erreichen. Als ob es nicht schwierig genug wäre, einen neuen Großflughafen zu bauen, neigen die Planer dazu, dessen Komplexität durch die gleichzeitige Entwicklung neuer Software für seinen Betrieb zu multiplizieren. Berlin ist keineswegs ein Einzelfall: In Hongkong gelang es, mit dem neuen Flughafen die gesamte Volkswirtschaft ins Schlingern zu bringen, und auch das neue Terminal 5 in London Heathrow kam in große Not. Sarkastisch kommentiert Flyvbjerg: "If a major project is not already messed up, injecting a good dose of ICT will do the job." (S. 363) Die Beteiligten an Toll Collect dürften ahnen, was er damit meint.

So betrachtet, bergen auch Konjunkturprogramme ungeahnte Risiken: Wenn wegen der schieren Zahl der Projekte die Qualitätsstandards weiter sinken, könnten sie ganze Volkswirtschaften endgültig ruinieren. Drei Ansatzpunkte nennt Flyvbjerg zum Schluss, wie man diese Probleme halbwegs in den Griff bekommen kann: Erstens, so sagt er, brauchen wir mehr Ehrlichkeit: "We need honestly to acknowledge that infrastructure investment is no easy fix but is fraught with problems." (S. 364) Denn wenn man über die Probleme nicht reden kann oder darf, kann man sie auch nicht lösen. Zweitens müssen wir den Rattenschwanz an finanziellen und ökonomischen Problemen, den solche Projekte nach sich ziehen – die Menge "schwarzer Schwäne" –, besser verstehen und besser managen. Drittens müssen die Anreizstrukturen in Ordnung gebracht werden, damit gute Leistung belohnt und schlechte bestraft wird, statt es, wie heute in vielen Fällen, umgekehrt zu machen. Auch das hört sich indes nach einer größeren Baustelle an.

Der Artikel kann von der Website der Oxford University heruntergeladen werden:
http://www.sbs.ox.ac.uk/centres/bt/Documents/UnfittestOXREPHelm3.4PRINT.pdf

Ein kurzes, aber eindrucksvolles Interview mit Prof. Bent Flyvbjerg findet sich hier:
http://www.heise.de/tr/artikel/Kultur-der-Fehlinformation-274752.html

Schlagworte:
Großprojekte, Megaprojekte, Kostenüberschreitungen, Interesssenkonflikte, Planungsfehler, Manipulation, Politische Kosten

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