Die Umsetzungsberatung

Rezensionen






Winfried Berner:
Culture Change

Unternehmenskultur als Wettbewerbsvorteil

Culture Change: Unternehmenskultur als Wettbewerbsvorteil

Für weitere Informationen
klicken Sie bitte hier.
 

Winfried Berner:
"CHANGE!" (Erweit. Neuauflage)

20 Fallstudien zu Sanierung, Turnaround, Prozessoptimierung, Reorganisation und Kulturveränderung

Change! - 20 Fallstudien zu Sanierung, Turnaround, Prozessoptimierung, Reorganisation und Kulturveränderung

Für weitere Informationen
klicken Sie bitte hier.
 

Winfried Berner:
"Bleiben oder Gehen"

Bleiben oder Gehen

Für weitere Informationen
klicken Sie bitte hier.
 

Vor uns schwierige Zeiten

Dalio, Ray (2021):

Principles for Dealing with the Changing World Order

Why Nations Succeed or Fail

Avid Readers Press (New York u.a.); 559 Seiten; 17,99 Euro


Nutzen / Lesbarkeit: 10 / 7

Rezensent: Winfried Berner, 17.01.2023

Jetzt bei Amazon.de bestellen

Die aktuelle Ballung finanzieller, innen- und außenpolitischer Krisen ist für Dalio Ausdruck davon, dass die Welt die konfliktreiche Endphase eines „Big Cycle“ durchlebt, bei der eine neue Führungsmacht an der zerfallenden alten Weltordnung rüttelt.

Ray Dalios Akribie und analytische Rigorosität ist zu bewundern – man beginnt zu ahnen, auf welche Weise er Bridgewater zu einem der weltweit erfolgreichsten Hedgefonds gemacht hat und dabei zum Multimilliardär wurde: Die gesamte dokumentierte Weltgeschichte hat er auf wiederkehrende Mustern analysiert, um künftige Entwicklungen besser vorhersehen und die richtigen Schlüsse daraus ziehen zu können. Und er ist fündig geworden.

Im Grunde eröffnet Dalio damit ein neues Forschungsgebiet, nämlich eine quantitativ-analytische Geschichtsforschung. Sie trachtet danach, historische Gesetzmäßigkeiten nicht mit der Intuition des Historikers zu erkennen, sondern durch die Analyse empirischer Daten.

Als Resultat er legt Ergebnisse vor, die die traditionsreiche Historikerzunft erblassen – oder ergelben – lassen müssten. Anders als modische Universalhistoriker à la Harari hat er mehr zu bieten als eine mehr oder weniger beliebige "Erzählung". Er legt ein empirisch abgesichertes Modell vor, das Erklärungen und Vorhersagen ermöglicht: Ein zyklisches Muster des Aufstiegs und Niedergangs großer Imperien, das sich etwa alle 80 bis 150 Jahre wiederholt und das er den "Big Cycle" nennt. Das ermöglicht sowohl eine Standortbestimmung als auch – vorsichtige – Prognosen, was vor uns liegt.

Solche langen Zyklen sind schwer zu erkennen, weil sie die individuelle Erinnerungsspanne übersteigen. Die Wiederholung ähnlicher Muster wird daher von den jeweiligen Betroffenen immer wieder als einzigartige, noch nie dagewesene Entwicklung erlebt. Im Aufstieg vermittelt dies das euphorische (und leider trügerische) Gefühl, es sei ein goldenes Zeitalter mit immerwährendem Wohlstand angebrochen, das die bisher geltenden Regeln außer Kraft setzt ("This time is different"); im Niedergang bekommt die Ballung negativer Entwicklungen Endzeitcharakter – was zum Glück auch nicht stimmt.

Keine leichte Lektüre, aber lohnend

Nicht nur wegen seines Umfangs ist das Buch keine leichte Lektüre: Dalio schreibt zwar klar und verständlich, aber staubtrocken – er ist eben Investor und kein Krimiautor. Die Energie zum Lesen und vor allem zum Dranbleiben muss daher aus dem Interesse an der Sache selbst kommen. Grund dazu gibt es reichlich: Auch wenn der Text nicht im gängigen Sinne "spannend" ist, ist er doch ungeheuer informationsdicht und erkenntnisreich.

Wer von den mehr als 500 Seiten zurückschreckt, den mag trösten, dass man den Wälzer nicht vollständig lesen muss. Beispielsweise beschreibt der 220 Seiten umfassende zweite Teil "How the World Has Worked Over the Last 500 Years" ausführlich die Epochen der jeweils dominierenden Weltmächte – von den Niederlanden über (damals noch Groß-)Britannien bis zu den USA und China.

Da kann man sich auf die 20-seitige Einführung "The Last 500 Years in a Tiny Nutshell" beschränken und ansonsten nur dort tiefer eintauchen, wo es einen interessiert. An den letzten knapp 40 Seiten "US-China Relations and War" kommt man freilich angesichts der Brisanz des Themas kaum vorbei.

Zweitens kann man das Buch auch selektiv lesen. So habe ich mit dem nur 50 Seiten langen Teil III "The Future" begonnen (über die Zukunft weiß man offenbar noch nicht so viel wie über die Geschichte) und mich erst danach an Teil I gemacht. Letzterer trägt den ambitionierten Titel "How the World Works", und gleich auf der zweiten Seite des ersten Kapitels bekräftigt Dalio:

"I'm on a mission to figure out how the world works and to gain timeless and universal principles for dealing with it well." (S. 24)

Bei vielen anderen Autoren würde man solch einen Anspruch wohl als Anzeichen von Größenwahn deuten – bei Dalio ist es nicht nur ernst gemeint, sondern auch ernst zu nehmen. Denn er entwirft wirklich ein Funktionsmodell der Weltgeschichte, und zwar eines, dass man nicht leichter Hand als Dilettantismus abtun kann.

Begrenzte Gestaltbarkeit der Geschichte

Dalio bekennt sich dabei zu einem mechanistischen Weltbild: Für ihn ist die Welt und der Gang der weltgeschichtlichen Ereignisse eine große Maschinerie, in der eines zum anderen führt – nicht völlig deterministisch, aber doch vorhersehbar.

"I have learned that history's continuously evolving story transpires like a perpetual-motion machine that is driven by cause/effect relationships that both evolve and repeat over time. (S. 57)

"Everything that has happened and everything that will happen has had and will have determinants that make it happen. If we can understand those determinants, we can understand how the machine works and anticipate what will likely be coming at us next." (S. 60)

Hätten wir ein perfektes Modell der Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge und sämtliche erforderlichen Fakten, so meint er an späterer Stelle, ließe sich der Verlauf der Ereignisse – einschließlich (prinzipiell) aller künftigen – vorhersehen. Nur unser unvollständiges, ja defizitäres Wissen verbaut uns diese Möglichkeit.

Solch ein Weltbild kann man entrüstet zurückweisen. Man kann aber auch einfach mal schauen, wohin es führt. Es führt ziemlich weit.

Gleich hier muss jedoch eine Einschränkung des historischen Determinismus' genannt werden, die Dalio selbst vornimmt: In jeder Phase des "Big Cycle" haben die jeweils Regierenden sehr wohl die Möglichkeit, unterschiedlich klug zu agieren – und dadurch bestimmen sie maßgeblich etwa darüber, wie lange gute Zeiten des Friedens und Wohlstands währen bzw. wie schrecklich und mörderisch schlechte Phasen verlaufen. Was ja deutlich mehr als nichts ist.

Doch können auch die Mächtigsten der Welt weder an der Abfolge der Phasen des Zyklus' etwas ändern noch sich und die ihnen anvertrauten Länder in bessere Zeiten hineinbeamen: Sie sind in ihre jeweilige Phase des Zyklus' "hineingeworfen" und haben lediglich die Chance, das Beste daraus zu machen – oder etwas deutlich Schlechteres. Trotzdem ist es natürlich ein gewaltiger Unterschied, ob Nüchternheit und Besonnenheit ihr Handeln bestimmen oder ob sie als populistische Brandstifter Öl ins Feuer gießen.

Der Große Zyklus der Geschichte

Letztlich untersucht das gesamte Buch jenen "Big Cycle", den Ray Dalio gleich im ersten Kapitel "in a tiny nutshell" vorstellt. Er besteht, erst einmal wenig überraschend, aus drei Hauptphasen, nämlich "The Rise", "The Top" und "The Decline". Diese drei Hauptphasen unterteilt er jeweils noch einmal in eine frühe und eine späte Phase, sodass sein Big Cycle insgesamt sechs Phasen umfasst.

Da drängt sich natürlich die Frage auf, wo wir im Augenblick stehen – und Dalios Antwort ist ernüchternd: Nach seiner Analyse befinden wir uns derzeit im unangenehmsten Teil des großen Zyklus', nämlich im Niedergang irgendwo zwischen der fünften und sechsten Phase. Er ist von Wirtschaftskrisen, wachsender gesellschaftlicher Polarisierung und zunehmenden außenpolitischen Spannungen geprägt, denn derzeit fordert wieder einmal eine aufsteigende Weltmacht eine absteigende heraus, die politisch und ökonomisch ziemlich abgewirtschaftet hat.

Die engsten Verbündeten der USA, also das, was man gemeinhin als "den Westen" bezeichnet, sind davon nicht nur betroffen, sondern befinden sich infolge von Überschuldung, sozialer Ungleichheit, Polarisierung und Populismus ebenfalls in unterschiedlichen Phasen des Niedergangs.

Dazu später mehr – jetzt erst einmal weiter mit Dalios Modell.

Unterhalb dieser großen, tieffrequenten Zyklen, die sich typischerweise über etwa 50 bis 75 Jahre erstrecken, oszillieren höherfrequente kleinere Zyklen wie etwa der normale "Business Cycle", in dem sich etwa alle acht Jahre Aufschwünge und Rezessionen abwechseln. Kurzfristige Schwächeperioden werden dabei vorzugsweise mit staatlichen Hilfsprogrammen überwunden.

Im Laufe der Zeit häuft sich so eine immer höhere Verschuldung an, bis irgendwann immer offensichtlicher wird, dass die aufgehäuften Schulden mit den zu erwartenden Einnahmen nicht mehr zurückgezahlt werden können – was bei den Gläubigern früher oder später zu einer wachsenden Zurückhaltung bei der Vergabe weiterer Kredite führt. Wenn die Lage irgendwann nicht mehr haltbar ist, nimmt die Abschwungphase des "Big Cycle" ihren Lauf.

Ist ein Zyklus durchlaufen, beginnt der nächste – wobei in Dalios Modell nicht so recht klar wird, wie aus dem Chaos der Endphase des alten Zyklus' der Anbruch eines neuen Aufstiegs erstehen. Klar wird nur, dass jeder neue Aufstieg geklärte Machtverhältnisse voraussetzt. Dazu gehört auch, dass Rivalitäten ausgestritten und überbordende Schulden gelöscht sind.

Allerdings kann die davor zu durchschreitende sechste und letzte Phase ziemlich unschön verlaufen: Sie geht oft mit Schuldenkrisen, Banken- und Währungszusammenbrüchen, Revolutionen und Umstürzen, Bürgerkriegen und "Shooting Wars" einher.

Fester Fortschrittsglaube

Um Dalios Ansatz einzuordnen, ist es nützlich, das Grundverständnis zu registrieren, mit dem er die Welt betrachtet:

"Evolution is the upward movement toward improvement that occurs because of adaptation and learning. Around it are cycles. To me, most everything transpires as an ascending trajectory of improvement with cycles around it, like an upward-pointing corkscrew (…) Evolution is a relatively smooth and steady improvement because the gaining of knowledge is greater than the losing of knowledge." (S. 27f.)

Was Dalio hier als Evolution bezeichnet, hat mit dem biologischen Begriff wenig zu tun. Die biologische Evolution ist ungerichtet, sie bewirkt lediglich eine Anpassung an die jeweils herrschenden Bedingungen durch Mutation und Selektion. Ändern sich die Bedingungen, ändert sich auch der Selektionsdruck – gemäß dem Merksatz von Michael Ruse: "Die Evolution geht – ziemlich langsam – nirgendwo hin."

Nach Dalios Verständnis hingegen hat die Evolution der politökonomischen Weltgeschichte eine klare Richtung: Es geht immer aufwärts, wenn auch mit wiederkehrenden Wellen und Dellen. Und aufwärts heißt für ihn in erster Linie, hin zu mehr (materiellem) Wohlstand. Die Zyklen, die er beschreibt, schwingen nach seinem Verständnis um eine aufsteigende Linie. Hinter seinem Ansatz steht also ein ausgeprägter Fortschrittsglauben.

Dieser quasi-religiöse Fortschrittsglauben ist auch die Erklärung dafür, weshalb es für Dalio nach jeder Krise, so bitter, zerstörerisch und blutig sie auch gewesen sein mag, weiter nach oben geht zu neuen, nie gekannten Höhen. Zwar kann er empirisch darauf verweisen, dass das bislang immer so war, über all die vielen Jahrhunderte der bekannten Geschichte hinweg. Aber das ist, so könnte man in Anlehnung an Nassim Nicholas Taleb spotten, die Logik des Truthahns am Tag vor Thanksgiving.

Immerhin wird ganz zum Schluss, am Ende des letzten Kapitels, deutlich, dass Dalio im Gegensatz zu vielen Kapitalismus- und Wachstumsoptimisten die Klimakrise nicht ignoriert:

"It is pretty clear to me that humanity and natural evoution together are doing great damage to the environment that will be very costly in both money and quality of life. This will affect countries very differently, in ways that we broadly anticipate based on their locations, climate, and – most importantly – industries. At the same time, this is a slow, steady and well-telegraphed change, which lends itself to the kind of adaptation and innovation humanity is uniquely able to do, though often too slowly and only in response to pain. I am inclined to believe that slowly and reactively is how it will happen." (S. 497)

Das ist nicht sehr präzise und letztlich nur eine vage Hoffnung, doch es zeigt exemplarisch, wo die Grenzen einer quantitativ-analytische Geschichtsforschung liegen: Zu neuartigen Risiken und Gefahren kann auch die umfassendste Analyse historischer Daten natürlich nichts sagen. Allenfalls kann sie das Vertrauen in die menschliche Erfindungsgabe und Innovationskraft beschwören.

Drei Big Cycles verschmelzen zu einem

Weiter mit Dalios Modell:

"I have identified 18 important determinants that have explained almost all of the basic ebbs and flows through time that have caused ups and downs in empires. (…) Most of them transpire in classic cycles that are mutually reinforcing in ways that tend to create a single very big cycle of ups and downs. This archetypical Big Cycle governs the rising and decline of empires and influences everything about them, including their currencies and markets (…)

The most important three cycles are (…) the long-term debt and capital market cycle, the internal order and disorder cycle, and the external order and disorder cycle." (S. 26)

Sein "archetypischer Big Cycle" besteht also aus drei separaten, aber untereinander verwobenen großen Zyklen, die wiederum von 18 ebenfalls großteils zyklischen Determinanten getrieben werden. (Nicht alle Determinanten sind zyklisch – insbesondere die "Acts of Nature" nicht, zu denen Dürren und Überflutungen ebenso zählen wie Seuchen und Pandemien. Sie schlagen ohne vorausberechenbares Muster zu.)

Im Gegensatz zu seiner sonstigen Präzision erklärt Dalio nicht explizit, wie seine zyklische Dreifaltigkeit ineinandergreift. Doch offenkundig schreibt er dem ökonomischen Zyklus den Primat zu: Im Aufstieg verwenden die Gesellschaften ihre Energie vor allem darauf, neuen Wohlstand zu schaffen. Und in dem Ausmaß, wie ihnen dies gelingt, haben sie auch wenig Anlass für größeren internen Zank oder für Streitigkeiten mit Nachbarn und Rivalen: Es herrschen "peace and prosperity" (S. 152).

Wie seine Einflussfaktoren zusammenwirken, beschreibt er so:

"Throughout time, the formula for success has been a system in which well-educated people, operating civilly with each other, come up with innovations, receive funding through capital markets, and own the means by which their innovations are turned into the production and allocation of the resources, allowing them to be rewarded by profit making." (S. 32)

Der Keim des Niedergangs

Das ist nun sicher eher eine Beschreibung der Neuzeit als eine der Menschheitsgeschichte: Ackerbauern und Viehzüchter dürften sich ebensowenig am Kapitalmarkt finanziert haben wie das griechische oder das römische Weltreich – aber sei's drum. Doch schon in dieser geradezu idyllisch-kapitalistischen Szenerie ist der nachfolgende Niedergang angelegt:

"However, over the long run capitalism has created wealth and opportunity gaps and overindebtedness that have led to economic downturns and revolutions and wars that have caused changes in the domestic and the world order." (a.a.O.)

Fatalerweise gehen Aufschwünge offenbar mit einer unwiderstehlichen Verführung einher, die erreichten Erfolge nicht der eigenen Anstrengung zuzuschreiben, sondern der eigenen Auserwähltheit. Die wiederum leistet dem Gefühl Vorschub, dass man sich nicht so verausgaben muss und dass einem Wohlstand und Luxus von Natur aus zusteht.

Jeder Aufschwung mündet daher früher oder später in eine schuldenfinanzierte Blase: Erfolgreiche Länder leben über ihre Verhältnisse, lassen Bildung und Arbeitsdisziplin schleifen, stellen stattdessen immer höhere Ansprüche – und irgendwann übersteigen die Schulden dann die Einnahmen, und ab dann wird es schwierig.

In der Phase des Niedergangs werden innergesellschaftliche Konflikte härter, zumal die Schere zwischen Reich und Arm sich im Boom immer weiter geöffnet hat. Die Unzufriedenheit mit der Politik wächst, die gesellschaftliche Polarisierung nimmt zu, und es breiten sich populistische Tendenzen aus. Die Stimmung wird aggressiver, was bis zu politischen Morden, Straßenkämpfen und Bürgerkriegen eskalieren kann.

Zu allem Übel steigt in dieser Phase auch die Gefahr von Kriegen, zum einen, weil für Politiker immer die Versuchung besteht, äußere Feindbilder zur Stärkung ihrer wankenden innenpolitischen Position zu mobilisieren, zum anderen, weil es für rivalisierende Länder verlockend sein kann, die innenpolitische Schwäche eines Nachbarn zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen zu nutzen.

Systematische Bewertung der Einflussfaktoren

Aufschlussreich ist, welche Einflussfaktoren ("determinants") den Big Cycle treiben. Die wichtigsten acht sind laut Dalio: (1) Bildung, (2) Innovation und Technik, (3) Wettbewerbsfähigkeit, (4) Wirtschaftsleistung, (5) Anteil am Welthandel, (6) militärische Stärke, (7) Stärke als Finanzzentrum und (8) eine Weltreservewährung, sprich, ein Zahlungsmittel, das auch im internationalen Handel akzeptiert wird. (Die letzten Punkte machen deutlich, dass Dalios impliziter Fokus eher Groß- und Mittelmächte sind.)

Doch Dalio wäre nicht Dalio, wenn die detaillierte Aufzählung dieser und weiterer Einflussfaktoren nur Geplapper von der Art wäre, dass eben letztlich alles mit allem "irgendwie" zusammenhängt. Er (und sein Research Team, das vermutlich kein ganz kleines war) bestimmt den Status jedes dieser Einflussfaktoren für jedes größere Land, quantifiziert sie nach Möglichkeit oder nimmt zumindest eine qualitative Einstufung vor, wo sie sich einer Quantifizierung entziehen.

Dabei setzt sich jeder dieser Einflussfaktoren aus verschiedenen (und daher separat zu messenden) Unterfaktoren zusammen. Wenn er beispielsweise den Stand der Bildung ("Education") eines Landes bewertet, fließt zwar am Ende alles in eine Einstufung zusammen, doch um die zu bestimmen, müssen eine Vielzahl unterschiedlichster Teilaspekte betrachtet und beurteilt werden, von der Förderung benachteiligter Kinder bis zur Qualität von Post-Doc-Programmen.

Anhand der Bewertungen zeigt Dalio auch, wie die Einflussfaktoren zusammenhängen – und dabei ergibt sich eine Folge von zeitversetzten Aufstiegen und Niedergängen: Der am weitesten vorauseilende Faktor ist Bildung; ihm folgt mit einem Abstand von einigen Jahrzehnten Innovation und Technik, darauf wiederum folgen die Wettbewerbsfähigkeit und die militärische Stärke. Ein paar weitere Jahrzehnte später resultieren daraus die Wirtschaftsleistung, die Position im Welthandel und der Status als Finanzcenter.

Wenn es jedoch mit der Bildung nach ein paar Jahrzehnten des Wohlstands bergab geht, zieht dies einige weitere Jahrzehnte später auch Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und in deren Folge bald auch alle anderen mit sich. Auch wenn das nur eine Durchschnittsbetrachtung ist, abgeleitet aus der Untersuchung einiger historisch besonders einflussreicher Mächte, hat es hohe Plausibilität – und muss zwangsläufig als Warnung verstanden werden.

Kredite als Treiber der großen Zyklen

In einem späteren Kapitel ("Investing in Light of the Big Cycle") gibt Dalio den meines Erachtens entscheidenden Hinweis, warum es Zyklen überhaupt gibt, wie sie entstehen und was sie antreibt:

"When credit is created, buying power is created in exchange for a promise to pay back, so it is near-term stimulating and longer-term depressing. That creates cycles." (S. 223)

Mit anderen Worten, wenn ein Kredit vergeben wird, erhöht dies kurzfristig die Kaufkraft und damit die Nachfrage. Auf längere Sicht reduzieren Kredite die Nachfrage jedoch, weil das aufgenommene Geld ja irgendwann – gleich ob in Raten oder als Gesamtbetrag – zurückgezahlt werden muss und damit nicht für neue Ausgaben zu Verfügung steht.

Solange einzelne kleine Wirtschaftssubjekte unkoordiniert und jeder für sich Kredite aufnehmen und zurückzahlen, hat dies unter dem Strich kaum einen Effekt, weil sich Kreditvergaben und -rückzahlungen die Waage halten. Nehmen aber sehr viele Privatpersonen und Unternehmen ungefähr zur gleichen Zeit Kredite auf (und der Staat noch dazu), hält sich nichts mehr die Waage: Dann entsteht erst ein (tendenziell inflationärer) Nachfrageboom, später eine (tendenziell deflationäre) Nachfrageschwäche, sprich, einer jener kurzen Zyklen, aus denen sich die großen zusammensetzen.

Auf dem Höhepunkt des Zyklus' wird mehr Geld ausgegeben und erwirtschaftet, die Verschuldung der Bevölkerung, der Unternehmen und des Staates wächst, getrieben von Euphorie und Gier, weit über das gesunde Maß hinaus. Früher oder später kommt es zu Insolvenzen und Schuldenkrisen. Die versuchen die Notenbanken einzudämmen, indem sie "Geld drucken", sprich, die Geldmenge erhöhen – was wiederum eine Fiat-Währung voraussetzt, das heißt ein Geldsystem, das nicht mehr durch reale Werte gedeckt ist. Harte Währungen verwandeln sich in weiche – bzw. werden verwandelt.

Wachsende innere und äußere Spannungen

Zugleich nimmt, nicht zuletzt aufgrund ungleicher Einkommens- und Vermögensverteilung, die wirtschaftliche und politische Spaltung der Gesellschaft zu – womit wir beim "Cycle of Internal Order and Disorder" wären. Die Spannungen verschärfen sich, wenn sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert und sich Verteilungskonflikte zuspitzen. Irgendwann ist dann der Punkt erreicht, wo die Schuldenblase platzt und es zu massiven Einschnitten und einer starken Geldentwertung kommt – was die inneren Spannungen und Verteilungskämpfe zwangsläufig weiter verschärft.

Hier kommt nun der dritte große Zyklus ins Spiel, der "Big Cycle of External Order and Disorder". Denn in solchen Zeiten steigt auch die Gefahr von Kriegen, und zwar aus mehreren Gründen. Zum ersten haben Herrschende schon immer gerne externe Feinde genutzt, um Kritiker zum Schweigen zu bringen und das Volk hinter sich zu versammeln.

Zum zweiten lenken äußere Konflikte von inneren Unzulänglichkeiten und einer schlechten Wirtschaftslage ab, und zum dritten sind schwächelnde Imperien besonders stark versucht, ihre angestammte Einflusssphäre gegenüber aufstrebenden Mächten selbst dann zu verteidigen, wenn sie ihre Möglichkeiten dabei überreizen und sich absehbar eine blutige Nase zu holen.

Dalio unterscheidet fünf Arten von Kriegen, nämlich Handels- bzw. Wirtschaftskriege (wie Import- und Exportbeschränkungen, Zölle), Technologiekriege (Aussperren und Zurückhalten bestimmter Technologien), geopolitische Kriege (strategische Bündnisse, Abstecken von Einflusssphären), Kapitalkriege (wie Sanktionen und das Abschneiden von Zahlungssystemen) und schließlich militärische Kriege.

Das macht die Sache noch ungemütlicher: Zum einen zeigt es, dass Kriege nicht erst mit dem ersten Schuss beginnen – und zum anderen, dass wir in dieser Entwicklung schon weiter sind als wir glauben. Andererseits mahnt es auch, zur Vernunft zu kommen, solange es noch Zeit dafür ist.

Dabei hält Dalio es für wenig aussichtsreich, seine Hoffnungen auf internationales Recht zu setzen:

"The international order follows the law of the jungle much more than it follows international law." (S. 194)

Das hinter dieser Aussage kein dumpf-fröhlicher Sozialdarwinismus steht, wird zwei Seiten später klar, wo Dalio eindringlich mahnend, ja geradezu pazifistisch klingt:

"The two things about war that one can be most confident in are 1) that it won't go as planned and 2) that it will be worse than imagined." (S. 196)

USA und China: Kriegsgefahren

"US-China Relations and War" ist das 13. und vorletzte Kapitel des Buchs überschrieben. In Dalios Denkmodell ist unsere Zeit geopolitisch davon gekennzeichnet, dass die "alte" Weltmacht USA, die die Weltpolitik spätestens seit dem 2. Weltkrieg maßgeblich bestimmt hat, herausgefordert wird durch die aufstrebende neue Weltmacht China, die sich anschickt, ihr die Vorherrschaft streitig zu machen.

Solche Übergänge verliefen in der Geschichte selten reibungslos. Daraus folgt keineswegs, dass ein neuer großer Krieg unausweichlich bevorsteht. Es heißt jedoch, dass viel Klugheit und Besonnenheit auf beiden Seiten erforderlich ist, um ihn zu vermeiden.

Gleich wie man die Kräfteverhältnisse heute einschätzt, mittel- bis langfristig scheint die Wachablösung unausweichlich: Da China rund viermal so viele Einwohner hat wie die USA, würde bereits die halbe Pro-Kopf-Produktivität ausreichen, um gleichzuziehen. Die schlichte Anzahl der Forscher legt zugleich auch die Vermutung nahe, dass China die USA mittel- bis langfristig auch technologisch überholen wird. Denn auch das ist letztlich eine Frage der eingesetzten Ressourcen.

Wie wird diese Entwicklung weitergehen? Im Kapitel zuvor hatte Dalio eine bemerkenswerte Feststellung gemacht:

"Traditional Chinese military philosophy teaches that the ideal way to win a war is not by fighting but by quietly developing one's power to the point that simply displaying it will cause an opponent to capitulate." (S. 384)

So besehen, hat China eigentlich keine Eile: Es muss nur, ein paar Rückschläge und zyklische Krisen hin oder her, auf seinem eingeschlagenen Kurs bleiben und Schritt für Schritt den Wohlstand und damit auch seine wirtschaftliche – sowie technische und militärische – Macht ausbauen.

Das Ringen um die Vorherrschaft hat längst begonnen

Legt man Dalios fünf Arten von Kriegen zugrunde, ist der Kampf um die Vorherrschaft längst in vollem Gang. Hinter "Handels- und Wirtschaftskrieg" können wir spätestens seit Trumps Importzöllen getrost einen Haken machen, desgleichen hinter Technologiekrieg: Man denke nur an die Aussperrung von Huawei und generell das sogenannte "Decoupling" beim Ausbau kritischer Infrastruktur. (Das ist ausdrücklich keine Wertung, sondern lediglich die Feststellung: So weit sind wir schon.)

Auch der geopolitische Krieg ist bereits fortgeschritten, wie ein Blick auf das Südchinesische Meer, auf Taiwan oder die "Neue Seidenstraße" zeigt. Wie weit fortgeschritten, macht Dalio auf ernüchternde Weise klar, indem er aufzeigt, wo die überwiegende Zahl der Länder dieser Welt stehen, wenn sie sich zwischen den USA bzw. "dem Westen" und China entscheiden müssten. Noch vor wenigen Jahrzehnten hätten die meisten Länder die westliche Seite gewählt; heute erwarten sich viele von China mehr als vom Westen. Und dieses Bild wird sich in den kommenden Jahrzehnten nicht drehen.

Viele asiatische, afrikanische und südosteuropäische Länder sind inzwischen Teil der neuen Seidenstraße und/oder über Investitionen und Kredite mit China verbunden. Oder sie finden es aus anderen Gründen nicht ratsam, es sich mit einem Akteur zu verderben, der ständig an Gewicht gewinnt. Viele wissen es auch zu schätzen, dass China weder lästige Fragen nach Menschenrechten, Korruption und Nepotismus stellt noch im Ruf steht, bei missliebigen Regierungen auf einen "Regime Change" hinzuarbeiten.

Im Gegensatz dazu sind die USA und der Westen erkennbar auf dem absteigenden Ast. Sie wirken nicht nur erratisch und unberechenbar, sie haben auch ihren Ruf als ehrlicher, langfristiger Partner längst eingebüßt. Die Abstimmung in der UN-Generalversammlung über eine Verurteilung des russischen Überfalls auf die Ukraine war in dieser Hinsicht eine erschreckende Standortbestimmung.

Eskalationspotenzial

Trotzdem schätzt Dalio die Gefahr eines militärischen Kriegs derzeit (noch) als gering ein:

"So, in summary, my computer and I working together now believe that because for the foreseeable future China and the US will be powerful enough to inflict inacceptable harm on each other the prospect of mutually assured destruction should prevent military war, though there almost certainly will be dangerous skirmishes. I expect this to be true unless some unexpected technological breakthroughs, like dramatic advances in quantum computing, gives one of these powers such an asymmetrical advantage that mutually assured destruction would cease to exist." (S. 489)

Allerdings besteht aus seiner Sicht ein nicht unerhebliches Risiko, in einen "dummen" und "unnötigen" Krieg hineinzustolpern (die naheliegende Frage, ob es intelligente und nötige Kriege gibt, lasse ich hier außer acht):

"Stupid wars often happen as a result of a tit-for-tat escalation process in which responding to even small actions of an adversary is more important than being perceived as weak, especially when those on both sides don't really understand the motivations of those on the other side. History shows that this is especially a problem for declining empires, which tend to fight more than is logical because any retreat is seen as a defeat." (S. 455)

Angesichts der polarisierten innenpolitischen Situation in den USA ist es in der Tat eine ausgesprochen ungemütliche Vorstellung, in welchem Dilemma ein amerikanischer Präsident im Falle eines militärischen Zwischenfalls mit China wäre. Er hätte die Wahl, sich entweder auf einen Krieg einzulassen, der weder ein sinnvolles Ziel noch Aussicht auf Erfolg hat – oder im eigenen Land als Feigling und Verräter beschimpft zu werden.

Rhetorisch ist die Eskalation bereits im vollen Gange: Die ständigen Vorwürfe und Beschuldigungen, die China ständig für alles Mögliche verantwortlich machen und fordern, es zur Verantwortung zu ziehen, tragen nicht nur zur Polarisierung bei, sondern zwingen im Ernstfall geradezu zu einer harten Reaktion. Denn je mehr man den "Feind" verteufelt und ihm alle möglichen Untaten anlastet, desto weniger "darf" man ihm durchgehen lassen, ohne sich selbst unglaubwürdig zu machen.

Anstrengend, aber wertvoll

Nein, eine erbauliche Feierabendlektüre ist das nicht. Doch wenn man den Kopf nicht in den Sand stecken und auf bessere Zeiten hoffen will, lohnt sich die Anstrengung, sich mit Dalios "Principles for Dealing With the Changing World Order" zu beschäftigen. Besser als in irgendeiner anderen mir bekannten Quelle erklärt, was auf dieser Welt eigentlich los ist und warum sich sowohl innergesellschaftliche als auch zwischenstaatliche Konflikte seit einigen Jahren so zuspitzen.

Was mir dabei besonders imponiert, ist, dass sein Erklärungsmodell dabei erstens konsistent mit den (mir) bekannten Fakten ist und dass es zweitens eine große Zahl (mehr oder weniger) bekannter Fakten in eine durchgängige Logik bringt:

  1. Ja, es ist plausibel, dass eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, wie sie große Teile der Bevölkerung in den letzten Jahren erleben, zu einer zunehmenden Gereiztheit und zu gesellschaftlicher Polarisierung führt.
  2. Es ist ebenfalls plausibel, dass die Rivalität zwischen China und dem Westen und speziell den USA in den letzten Jahren immer spürbarer geworden ist und dass diese Spannungen zunehmend sowohl den Welthandel als auch die Weltpolitik belasten.
  3. Plausibel finde ich auch, dass die Verschuldung vieler Staaten den Punkt erreicht oder überschritten hat, an dem sie nicht mehr zurückgezahlt werden können – mit der Folge, dass ihnen eigentlich nur noch Ahnungslose sowie Notenbanken weiter Geld leihen.

Klar, man könnte sich bessere Nachrichten vorstellen. Aber mal ehrlich: Wir spüren doch alle schon seit einer Weile, dass sich da etwas zusammenbraut. Insofern finde ich die Klarheit, die Dalio mit seinen Analysen und seinem Denkmodell schafft, eher entlastend als belastend. Auf dieser Basis kann man sich von der illusorischen Hoffnung lösen, dass die Verhältnisse wie durch ein Wunder wieder "normal" werden (also so, wie wir sie über viele Jahre gekannt haben), und sich darauf einstellen, dass schwierige Zeiten auf uns zukommen.

Mir jedenfalls ist eine harte Wahrheit (bzw. ein schlüssiges Denkmodell) lieber als das ahnungsvolle Stochern im Ungewissen. Ich finde es sogar tröstlich zu erfahren, dass es solche Perioden schon öfter in der Menschheitsgeschichte gegeben hat – und dass sie, wenn auch nicht ohne Blessuren, vorbeigegangen sind. Zwar wiederholt sich die Geschichte nicht, trotzdem können historische Parallelen helfen, Muster zu erkennen und realistische Erwartungen zu bilden.

Wie verhält man sich sinnvoll in einer solchen Situation? Gelassene Aufmerksamkeit scheint mir ein gutes Rezept. Unabhängig von der eigenen Lebenssituation dürfte der erste und vielleicht wichtigste Schritt sein, eine weitere innen- und außenpolitische Zuspitzung für möglich zu halten und sie zu durchdenken. Darauf panisch zu reagieren, ist sicher nicht sinnvoll, wohl aber, auf unterschiedliche Entwicklungen vorbereitet zu sein und das eigene Risikomanagement darauf einzurichten.

(Das Buch ist inzwischen auch auf Deutsch verfügbar.)

Schlagworte:
Volkswirtschaft, Weltwirtschaft, Internationale Beziehungen, Kriege, USA, China, Große Zyklen, Makroökonomie

Plagiate dieser Website werden automatisiert erfasst und verfolgt.