Die Umsetzungsberatung

Psychologie der Veränderung

Erpressung / Nötigung: Wie man sich (nicht mehr) zwingen lässt

 

Winfried Berner, Die Umsetzungsberatung

Vermutlich jede und jeder kennt das Gefühl, etwas nur mit Widerwillen zu tun, weil wir dazu gedrängt oder genötigt wurden. Weil also jemand anderer Druck auf uns ausübt – und weil wir, das ist die andere Hälfte der Wahrheit, es nicht wagen, uns seinem Ansinnen zu widersetzen, aus der Befürchtung, der oder die Betreffende könnte es uns an anderer Stelle heimzahlen, wenn wir uns seinem Wunsch verweigern.

  • Gedrängt, genötigt, erpresst

Der Widerwillen ist leicht zu verstehen: Wir tun etwas (oder machen etwas mit, lassen etwas mit uns machen), was wir "eigentlich" nicht wollen – das ist im harmlosesten Fall lästig, im schlimmsten schmerzlich und entwürdigend. Dazu kommt die natürliche Reaktanzreaktion: Der spontane Unwillen und die "reflektorische" Abwehrreaktion, den jede Form von Fremdbestimmung auslöst. Viel interessanter, als den Widerwillen zu erklären, ist jedoch die Frage, warum wir, obwohl wir doch solch einen ausgeprägten Widerwillen dagegen empfinden, dann eigentlich trotzdem mitspielen.

  • Verständlicher Widerwillen

Auf unsere Mitwirkung angewiesen

 

Denn das tun wir ja. Und nur dadurch funktioniert die Nötigung oder Erpressung überhaupt. Spielten wir nicht mit, ginge der gesamte Druck ins Leere. Statt uns also darüber zu beklagen, was diese/r andere für ein schrecklicher, übergriffiger Mensch ist, der so etwas Ungehöriges mit uns macht, bringt es mehr, darüber nachzudenken, warum wir es mit uns machen lassen: Aus welchen Gründen spielen wir mit, trotz all unseres Widerwillens?

  • Warum lassen wir das mit uns machen?

"Weil mir nichts anderes übrig bleibt!", werden manche mit einem Anflug von Gereiztheit sagen – und die Heftigkeit ihrer Antwort lässt ahnen, dass sie den Gedanken nicht mögen, es könnte eine Alternative zu ihre Gefügigkeit geben. Aber das ist Teil des Problems: Solange wir uns nur über andere beklagen und – in aller Regel vergeblich – fordern oder hoffen, dass sie ihr Verhalten ändern, machen wir uns selbst zum Opfer: Damit liefern wir uns den Tätern aus und tragen selbst dazu bei, dass wir wehrlos sind und an unserer beklagenswerten Lage nichts ändern können.

  • Gibt es eine Alternative zum Mitspielen?

Warnhinweis: Wer den Gedanken seiner eigenen Mitwirkung ungeheuerlich und als eine unerträgliche Verdrehung der Tatsachen empfindet, möge die Lektüre hier abbrechen. Er oder sie wird an dem, was folgt, keine Freude haben und aufgrund seiner oder ihrer Grundhaltung leider auch wenig Nutzen daraus ziehen können.

  • Warnhinweis

Das Verhalten anderer liegt nicht in unserer Hand. Wir können es nur indirekt beeinflussen, nämlich durch eine Änderung unseres eigenen Verhaltens. Deshalb liegt der Schlüssel dafür, wie wir uns vor Nötigung und Erpressung schützen bzw. gegen sie wehren können, nicht in der Person oder im Verhalten des Täters oder der Täterin, sondern in unserem eigenen Denken und Handeln. Er liegt darin, wie wir auf Versuche reagieren, Druck auf uns auszuüben, um uns zu nötigen oder zu erpressen.

  • Nur unser eigenes Verhalten können wir ändern

Machen wir uns klar: Erstens ist jede Nötigung und Erpressung auf unsere Mitwirkung angewiesen und kann nur durch sie erfolgreich sein. Zweitens kann unsere Mitwirkung trotz aller Bemühungen, Druck aufzubauen, nicht erzwungen werden: Erfolgreich ist das nur unter der Voraussetzung, dass wir kooperieren. Jede Nötigung oder Erpressung scheitert, wenn wir uns entschlossen weigern, selbst zum Mittäter unserer eigenen Nötigung oder Erpressung zu werden.

  • Auf unsere Kooperation angewiesen

Warum also machen wir mit? Was veranlasst uns trotz all unseres Unwillens zur Kooperation? Was fürchten wir, falls wir es nicht täten? Wovor haben wir Angst? Achtung: Wir reden hier nicht über die Fälle, in denen die Kooperation mit brachialer Gewalt oder durch deren glaubhafte Androhung erzwungen wird. Stattdessen richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die viel häufigeren Fälle, wo die einzige angedrohte oder von uns befürchtete Sanktion darin besteht, dass uns ersehnte Vorteile nicht gewährt oder entzogen werden. Oder dass wir Nachteile befürchten, wenn wir uns dem Wunsch verweigern.

Bevor wir uns das genauer ansehen, sollten wir einige zentrale Begriffe klären – und nehmen dafür das deutsche Strafgesetzbuch zu Hilfe.

  • Befürchtete Nachteile / verweigerte Vorteile

Was genau ist eigentlich Erpressung, was Nötigung?

 

Erpressung ist im Gesetz ziemlich klar definiert: Nach § 253 StGB liegt eine Erpressung dann vor, wenn jemand "einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt und dadurch dem Vermögen des Genötigten oder eines anderen Nachteil zufügt, um sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern".

  • §253 StGB definiert Erpressung

Explizite wie implizite Drohungen gibt im Alltag öfters, doch an den beiden letztgenannten Tatbestandsmerkmalen fehlt es in vielen Fällen: Erstens liegt längst nicht immer eine wirtschaftliche Bereicherungsabsicht vor, und zweitens erleiden die Betroffenen meist keinen Vermögensnachteil. Insofern ist das, was wir im Alltag als Erpressung bezeichnen, im juristischen Sprachgebrauch oft gar keine – meist ist es meist "nur" eine Nötigung (§ 240): Die kommt ohne den unfreiwilligen Vermögenstransfer aus, der nach dem StGB erst die Erpressung ausmacht, stattdessen reicht für eine Nötigung die "Drohung mit einem empfindlichen Übel".

  • Im juristischen Sprachgebrauch eine Nötigung

Nicht nur aus juristischer Sicht, sondern aus einer sehr praktischen Perspektive verbirgt sich eine spannende Frage hinter dem unscheinbaren Wörtchen "rechtswidrig". Denn nur wenn die Anwendung von Gewalt oder die Drohung damit rechtswidrig ist, liegt eine Straftat vor. Wann eine Handlung "rechtwidrig" ist, ist im zweiten Absatz des §240 StGB präzise definiert: "Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist."

  • Schlüsselfrage "Verwerflichkeit"

Das heißt auf Deutsch: Nicht jede Androhung eines "empfindlichen Übels" ist im juristischen Sinne eine Nötigung. Dieser Tatbestand liegt vielmehr nur dann vor, wenn die Drohung und das mit ihr verfolgte Ziel nicht zusammenpassen. Das ist ein Gedanke, der auch von Nichtjuristen Aufmerksamkeit verdient: Der Gesetzgeber hebt hier weder auf die Drohung an sich ab noch auf ihr Ziel, sondern macht die Rechtswidrigkeit an einer unangemessenen Verknüpfung von beiden fest.

  • Nicht jede Drohung ist eine Nötigung

Logische Konsequenz versus Willkür

 

Das hat mehrere wichtige Konsequenzen. Die erste ist, dass nicht jede Androhung von empfindlichen Übeln im juristischen Sinne eine Nötigung ist. Ein Beispiel für eine zulässige Drohung finden wir direkt in diesem Paragrafen "… wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft": Es lässt sich ja kaum bestreiten, dass dies die Androhung eines empfindlichen Übels ist. Doch diese Drohung ist nicht verwerflich, sie ist gerechtfertigt, weil der verfolgte Zweck und das angedrohte Übel zusammenpassen. Schließlich dient die Drohung in diesem Fall der Prävention von Straftaten – konkret dem Zweck, rechtswidrige Nötigungen zu verhindern.

  • Gerechtfertigte Androhungen

Ähnliches gilt im Alltag etwa für die Drohung: "Wenn du nicht rechtzeitig fertig bist, fahre ich ohne dich los!" Auch das ist keine verwerfliche Verquickung, es ist vielmehr eine berechtigte, vermutlich sogar wohlbegründete Warnung. Tatsächlich gibt es eine Vielzahl von legitimen Fällen, wo für unkooperatives oder inakzeptables Verhalten Konsequenzen angedroht werden: Wer seinen Chef bedroht, fliegt. Oder: Wer mehrfach unentschuldigt fehlt, muss mit seiner Kündigung rechnen.

  • Alltägliche Drohungen

Fast noch wichtiger ist aber eine andere Konstellation: In manchen Fällen ist sowohl das Ziel legitim als auch die angedrohte Konsequenz, aber ihre Verknüpfung ist trotzdem nicht in Ordnung – oder, juristisch ausgedrückt, verwerflich: "Wenn du meine Forderung nicht unterstützt, fahre ich ohne dich los!" Auch wenn normalerweise niemand verpflichtet ist, andere Leute mitzunehmen, fänden wohl die meisten Menschen eine solche Verquickung unangebracht und anrüchig. Warum? Die häufigste Antwort wäre wohl: Weil das eine mit dem anderen nichts zu tun hat.

  • Unzulässige Verquickung

Aber das ist keine ausreichende Begründung, denn es lässt die zentrale Frage offen: Wann genau hat denn das eine mit dem anderen zu tun, wann nicht? Es hat dann miteinander zu tun, wenn es eine schlüssige sachliche Verbindung zwischen dem "Wenn" und dem "Dann" gibt. Das ist der Fall bei der Aussage: "Wenn du nicht rechtzeitig fertig bist, fahre ich ohne dich los!" Sie benennt die logische Konsequenz, wenn jemand nicht bereit oder in der Lage ist, beliebig lange auf den anderen zu warten. Dagegen gibt es zwischen der Forderung "Wenn du meine Forderung nicht unterstützt" und der angedrohten Konsequenz keinerlei sachlich-logische Verbindung: Das ist Willkür, sprich, die unzulässige und unanständige Ausnutzung einer Machtposition.

  • Logische Konsequenz oder Willkür

Der entscheidende Unterschied von logischen Folgen und Willkür

 

Entsprechend unterschiedlich ist die Akzeptanz. Und da gibt es klare Abstufungen. Am umstandslosesten werden die natürlichen Folgen des eigenen Handelns akzeptiert, auch wenn sie noch so unangenehm sind: Wenn ich mich zu leicht anziehe, kann es sein, dass ich übel friere – doch falls es so kommen sollte, habe ich es mir selber zuzuschreiben und kann mich bei niemanden beschweren. Wenn ich zu spät zum Bahnhof komme, kann es sein, dass mein Zug weg ist. (Natürlich kann es auch sein, dass er Verspätung hat und ich ihn trotzdem noch erwische, aber darauf besteht kein Anspruch: Sollte er pünktlich sein, ist das für verspätete Reisende zwar unangenehm, aber nichts, was sie der Bahn zum Vorwurf machen können.)

  • Natürliche Konsequenzen

Wenn der Kollege ohne mich losfährt, weil ich nicht zur vereinbarten Zeit abreisefertig war, ist es ähnlich. Aber mit einem kleinen Unterschied: Hier läuft kein Automatismus ab, sondern es ist eine Person im Spiel, die eine bewusste Entscheidung im Bezug auf meine Mitnahme trifft – im Gegensatz zur Lokführerin, die von mir und meiner Verspätung nichts weiß und auch nichts machen könnte, wenn sie es wüsste. Damit bekommt eine Bedeutung, welche Haltung der Kollege zur Situation und zu meiner Person einnimmt.

  • Die Haltung macht den Unterschied

Sagt er "Tut mir leid, aber ich will um die und die Zeit am Ziel sein und brauche ein bisschen Puffer für Verzögerungen, deshalb muss ich jetzt leider ohne dich los", dann ist seine Abfahrt tatsächlich notwendig, um sein Ziel planmäßig zu erreichen – und dass ich nicht mitfahren kann, wenn ich nicht startbereit bin, ist die sachlogische Konsequenz. Sagt er hingegen "Du bist immer unpünktlich. Deshalb fahre ich jetzt ohne dich, damit du endlich lernst, pünktlich zu sein!", dann ist das, je nachdem, wie man es deuten möchte, eine Bestrafung oder eine "Erziehungsmaßnahme", aber in jedem Fall nicht sachlogisch begründet – und damit Willkür.

  • Logische und "unlogische" Konsequenzen

Mit anderen Worten, ein- und dieselbe Handlung – wie hier das Losfahren – kann sowohl die logische Konsequenz sein als auch eine völlig unlogische, je nach ihrer Motivation und Begründung. Auch ohne diesen Unterschied in Worte fassen zu können, spüren wir ihn sehr genau – und reagieren völlig unterschiedlich: Wenn der Kollege aus Zeitgründen losfährt (und seine Begründung für uns glaubhaft ist), versuchen wir ihn vielleicht noch kurz, ihn zum Warten zu bewegen, aber wir akzeptieren letztlich seine Entscheidung, ohne ihm ernstlich böse zu sein. Fährt er hingegen ohne uns ab, um uns zu "erziehen", sind wir verärgert und wütend. Dann hat er seine Machtposition ausgenutzt, um uns "eine Lehre zu erteilen", und das nehmen wir ihm übel.

  • Völlig unterschiedliche Reaktionen

Eine Machtposition in diesem Sinne liegt immer dann vor, wenn der eine über etwas verfügen kann, was für einen anderen von einigem Interesse ist. Das kann sich aus der Situation ergeben, wie eben, wenn der eine zufällig mit dem Auto da ist und der andere nicht, es kann aber auch strukturell bedingt sein, etwa durch eine Hierarchie oder durch die familiäre Situation. Im harmlosesten Fall geht es dabei nur eine bequeme und zeitsparende Möglichkeit, von hier nach dort zu kommen; gravierender ist die Macht, über eine Beförderung oder über andere Dinge zu entscheiden, die für den oder die Adressaten von großem Interesse sind. Immer dann, wenn es solch ein Machtgefälle gibt, gibt es sowohl zulässige als auch inadäquate und damit, mit den Worten des Gesetzes, "verwerfliche" Verknüpfungen.

  • Ausübung von Macht

"Ich werde Sie befördern, wenn Sie dieses Projekt zu einem guten Ergebnis führen" – das hielten wohl die meisten für eine zulässige und plausible Verknüpfung, jedenfalls wenn das Projekt anspruchsvoll genug ist und klar ist, was unter einem guten Ergebnis zu verstehen ist. "Ich werde Sie befördern, wenn Sie mir diese oder jene Gefälligkeit erweisen" – das würden wohl die meisten als unzulässige, verwerfliche Verknüpfung betrachten. Denn hier wird die Beförderung an einen persönlichen Vorteil für den geknüpft, der die Macht hat, über die Beförderung zu entscheiden.

  • Zulässige und unzulässige Verknüpfungen

Nötigung und Erpressung – von Kindesbeinen an eingeübt

 

Schon als Kinder haben die meisten von uns ein feines Gespür für diesen Unterschied entwickelt, und zwar anhand von praktischen Beispielen: "Du bekommst dein Taschengeld erst, wenn du dein Zimmer aufgeräumt hast" – ja, das ist Erpressung (oder, juristisch korrekt, Nötigung). Es ist Willkür, einfach weil das Taschengeld in aller Regel nicht der vereinbarte Lohn für das Aufräumen ist. Und natürlich ist es das Ausnützen einer Machtposition, gegen die sich das Kind nicht wehren kann. Gerade deshalb löst es Ärger und Wut aus, unter Umständen auch den Wunsch nach Rache.

  • Ausnützen der elterlichen Machtposition

Vermerkenswert ist, dass solche unzulässigen Verknüpfungen den "Opfern" in der Regel viel stärker ins Auge springen als den "Tätern": Während die Kinder über die "gemeine" Verknüpfung von Aufräumen und Taschengeld empört sind, finden die Eltern nichts dabei. Vielleicht sind sie sogar heilfroh, eine einfache Taktik entdeckt zu haben, wie sie ihren widerspenstigen Nachwuchs ohne lange Streitereien und Verhandlungen zur Raison bringen können.

  • Clevere Taktik oder Gemeinheit?

Die Eltern finden darin abermals bestätigt, was sie längst wussten: Erpressung (bzw. Nötigung) funktioniert. Sie nutzen die so erfolgreiche Methode bald auch für andere Fälle, wo sie etwas durchsetzen wollen und dafür mit Vergünstigungen winken oder mit "empfindlichen Übeln" drohen können. Und sie tun dies in der Regel, ohne zu sehen, wie viel Zorn, Wut und Groll sie damit bei ihren Kindern aufbauen, denen auf diese Weise ja immer wieder das Machtgefälle zu spüren geben und sie erleben lassen, dass sie sich gegen derartige Diktate kaum wehren können.

  • Die Lehre: Erpressung funktioniert

Doch auch die Kinder lernen: Erpressung (bzw. Nötigung) funktioniert. Die Schlussfolgerung, die die Mehrzahl von ihnen aus diesen Erfahrungen zieht, ist leider nicht der feste Entschluss, selbst niemals solch unfaire, erpresserische Methoden einzusetzen – im Gegenteil: Sie übernehmen die Taktik alsbald für Gelegenheiten, in denen sie selbst in der überlegenen Position sind, etwa gegenüber Geschwistern, gegenüber Schulkameraden – aber auch gegenüber ihren Eltern, wenn sich eine günstige Gelegenheit dazu bietet.

  • Fürs Leben gelernt – und umgehend angewendet

Wer das nicht glaubt, denke an jene Kinder, die morgens so lange herumtrödeln, bis sie den Schulbus verpasst haben – und ihre Mutter damit erfolgreich nötigen, sie mit dem Auto in die Schule zu fahren. Nun ist auf einmal das Kind in der stärkeren Position: Da es weiß, dass seine Eltern großen Wert auf eine gute Schulbildung legen, lautet die implizite Androhung eines empfindlichen Übels hier: "Wenn du mich nicht in die Schule fährst, versäume ich den Unterricht, wenn ich den Unterricht versäume, bekomme ich schlechte Noten – und wenn ich schlechte Noten bekomme, wer weiß, was dann aus mir wird!"

  • Ab morgen wird zurückgenötigt

Andere Beispiele für den erfolgreichen Einsatz der Taktik sind jene Kinder, die etwa im Restaurant ultimativ fordern: "Ich will noch eine Cola!" oder an der Supermarktkasse: "Mami, ich will ein Eis!" Und die auf die anfängliche Weigerung der Eltern mit einer stufenweisen Erhöhung der Lautstärke, mit rotem Anlaufen oder mit einem "Schreik(r)ampf" reagieren – bis die Eltern unter dem Druck der wachsenden Zahl von Augen, die sich auf sie richtet, ebenso verärgert wie eingeschüchtert klein beigeben, nicht selten mit dem grotesken Hinweis: "Aber zum letzten Mal!"

  • Vielfältige Einsatz-möglichkeiten

Drohungen – nicht ausgesprochen, trotzdem gehört

 

Teil des Problems ist, dass wohl die meisten Akteure bei diesen alltäglichen Nötigungen und Erpressungen ohne Unrechtsbewusstsein agieren. Ganz im Gegenteil: Die meisten Menschen besitzen ein über Jahrzehnte trainiertes Gespür dafür, wo sie strukturell oder situativ in der überlegenen Position sind und wie sie dies nutzen können, um ihre Interessen durchzusetzen. Und selbst wenn wir zuweilen ahnen, dass das nicht ganz in Ordnung ist, was wir da machen, nutzen wir solche Einflussmöglichkeiten routiniert zu unserem Vorteil.

  • In der Regel kein Unrechts-bewusstsein

Ähnlich geübt sind wir darin zu erkennen, wo uns jemand mit einer solchen Taktik in die Zange nimmt – bis hin zu dem Punkt, dass die "Androhung eines empfindlichen Übels" gar nicht mehr ausgesprochen werden muss, um ihre Wirkung zu entfalten: Häufig reicht es, dass jemand aus einer relativen Machtposition einen "Wunsch" oder eine "Bitte" äußert, um zumindest manche Adressaten die Drohung mit einem empfindlichen Übel für den Fall der Nichterfüllung mitempfinden zu lassen.

  • Mitgehörte Drohung

Das ist umso bemerkenswerter, als Deutschland im internationalen Vergleich als "Low-Context-Culture" gilt, also als eine Kultur, in der Dinge meist explizit ausgesprochen werden, weil man sich nicht darauf verlassen kann oder will, dass die Botschaft von den Adressaten ohnehin aus dem Kontext entnommen wird. Deshalb zählen wir Deutschen international eigentlich zu denen, die zum Beispiel Kritik, Beschwerden oder Rügen für den Geschmack anderer Kulturen zu explizit, zu deutlich und zu hart thematisieren.

  • Mitschwingender Kontext

Nicht so bei den alltäglichen "Erpressungen", über die wir hier reden: Da kann man in aller Regel darauf vertrauen, dass die eigene Position ganz von alleine als Verstärker der geäußerten Bitte wirkt. Ja, es gälte sogar als ausgesprochen unelegant, die "Androhung eines empfindlichen Übels" explizit auszusprechen und eine Verbindung etwa mit der erhofften Beförderung oder Beauftragung herzustellen. Jede und jeder weiß ja ohnehin Bescheid über die bestehenden Abhängigkeiten – da wäre es stillos, ja geradezu rüpelhaft, explizit auf sie zu verweisen: "Sie wissen ja, dass wir demnächst über Ihren Bonus reden …"

  • Aussprechen der Drohung wäre unelegant

Eine unauflösbare Grauzone

 

Das hat den Nachteil (oder, je nach Interessenlage, den Vorteil), dass derartige Nötigungen oder Erpressungen kaum noch nachweisbar sind. Da es an der expliziten oder wenigstens andeutungsweisen Androhung eines empfindlichen Übels fehlt, ist ein "gerichtsfester" Nachweis einer Nötigung in solchen Fällen in aller Regel kaum zu erbringen. Damit geht auch der strafrechtliche Schutz weitgehend ins Leere bzw. beschränkt sich auf absolute Tölpel: Wo es keine explizite Drohung gibt, findet die Nötigung in den Köpfen der Adressaten statt. Was wiederum nur durch eine aktive Mitwirkung dieser Köpfe möglich ist.

  • Kaum ein gerichtsfester Nachweis möglich

Und hier beginnt das nächste Problem: Es gibt keine Gewähr dafür, dass das, was sich in den Köpfen abspielt, die äußere Realität zutreffend abbildet. Sprich, ob die Androhung eines empfindlichen Übels überhaupt existiert – oder ob sie nur eingebildet ist. Es gibt auch kaum eine Möglichkeit, das objektiv zu überprüfen. Das ist ungeheuer praktisch für diejenigen, die solche "Wünsche" oder "Bitten" äußern: Gleich wie unangemessen sie waren, können sie sich immer unwiderlegbar darauf zurückziehen, dass sie niemals auch nur im Entferntesten daran gedacht hätten, eine derartige Verbindung herzustellen.

  • Angedrohte Nachteile – real oder eingebildet?

Nicht einmal im Nachhinein lässt sich das zweifelsfrei feststellen: Habe ich die Stelle, die Beförderung, den Auftrag nicht bekommen, weil ich mich nicht als gefügig genug erwiesen habe – oder hat jemand anderer einfach einen besseren Eindruck hinterlassen? (Und wenn ja, in Bezug auf was?) Das ist ein ideales Feld für unergiebige Grübeleien, und eine mögliche Schlussfolgerung ist, sich beim nächsten Mal eben als noch willfähriger zu zeigen. (Eine andere wäre zu erkennen, dass man sich selbst aufgibt, wenn man sich auf diesen Wettbewerb der Anpassung und Anbiederung einlässt. Und stattdessen seinen eigenen Weg zu gehen, auch wenn das vielleicht dazu führt, dass man manchmal nicht bekommt, was man gerne hätte.)

  • Unauflösbare Unklarheit

Diese unauflösbare Unklarheit liefert denjenigen, die sich in einer Machtposition befinden, nicht nur unwiderlegbare Ausreden und Alibis – es erspart es ihnen sogar, sich überhaupt festlegen zu müssen, wie sie es denn meinen oder gemeint haben. Sie können den Druck, den ihre Position mit sich bringt, einfach seine Wirkung entfalten lassen und seine Vorteile genießen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, dass schon ihre schiere Position und Sanktionsmacht ihrer Bitte Nachdruck verleiht.

  • Vorteil ohne Verantwortung

Mit anderen Worten, sie können subjektiv (aus Sicht der Adressaten) Nötiger sein, ohne subjektiv (aus ihrer eigenen Sicht) irgendeine Nötigungsabsicht zu haben. Und zwar einfach weil hier unterschiedliche Perspektiven aufeinandertreffen – und weil es aus der mächtigeren Position heraus leicht ist zu übersehen, in welchem Ausmaß die eigene Machtpositionen die Beziehung beeinflusst. Mit etwas narzisstischem Talent können sie sogar glauben, dass ihnen die erbetenen Gefälligkeiten aus reiner Nettigkeit und Sympathie entgegengebracht worden seien, eben wegen der besonders guten persönlichen Beziehung oder wegen ihrer besonderen Ausstrahlung.

  • Subjektiv Nötiger, subjektiv unschuldig

Auf Organisationsebene ist wohl der wirksamste Weg, solche impliziten Nötigungen zu verhindern oder zumindest zu erschweren, eine Beweislastumkehr: Nicht der oder die Genötigte muss im Streitfall beweisen, dass er oder sie tatsächlich genötigt wurde, sondern der oder die Beschuldigte muss glaubhaft machen, weshalb ihre oder seine Bitte im konkreten Fall keineswegs als implizite Nötigung misszuverstehen war. Wenn dieser Grundsatz gilt, wird es ganz von alleine ratsam, aus einer relativen Machtposition heraus keine Wünsche oder Bitten zu äußern, die nicht aus dem Aufgabenzusammenhang begründet sind.

  • Umkehr der Beweislast als organisatorische Lösung


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Individuelle Handlungsstrategien

 

Von früh auf haben die meisten von uns ihre eigenen Strategien entwickelt, wie wir mit tatsächlichen oder vermuteten Nötigungen umgehen. Diese Strategien sind davon bestimmt, welche Ziele uns in solchen Situationen am wichtigsten sind bzw. wie wir unsere Ziele im Konfliktfall priorisieren: Wer etwas um jeden Preis erreichen oder vermeiden möchte, verhält sich logischerweise anders als jemand, der vor allem seine Selbstbestimmung verteidigen oder eine andere, die primär Stress vermeiden möchte.

  • Persönlicher Umgang mit Nötigung

Ich habe über die Jahre immer wieder Führungs- und Nachwuchskräfte erlebt, die im persönlichen Gespräch sehr klare und dezidierte Kritikpunkte an der Strategie ihres Unternehmens oder an bestimmten Entscheidungen und/oder Handlungsweisen ihrer Vorgesetzten bzw. des Top-Managements vorbrachten, sich aber strikt weigerten, diese Kritik auch gegenüber den Verantwortlichen direkt zu äußern. Und zwar selbst dann, wenn sie explizit dazu aufgefordert wurden.

  • Keinerlei Kritik

Auf die Frage, warum sie ihre Kritik denn so eisern für sich behielten, kommen in aller Regel Variationen über das Thema Karriererisiko. Bei weiterem Nachfragen stellt sich meist heraus: Konkrete Beispiele, wo jemand wegen zu deutlicher Kritik einen Karrierenachteil erlitten hätte, können sie nicht benennen, aber, so relativieren sie, man würde ja auch nicht alles erfahren. Auf keinen Fall wollten sie jedoch riskieren, selbst das erste ihnen bekannte Beispiel zu werden. (Weshalb ich auch nie ganz verstanden habe, weshalb sie mich zum Mitwisser ihres gefährlichen Geheimnisses machten, statt sie auch vor mir zu verbergen. Vielleicht kommt darin doch ein gewisser Leidensdruck zum Ausdruck. Aber vermutlich gab es etliche andere, die genau dies taten.)

  • Angst vor Karriererisiken

Dass andere Kollegen doch schon öfters deutliche Kritik geäußert hätten und trotzdem Karriere gemacht hätten, wird von den Betreffenden als Ausnahme- oder Sonderfälle abgetan: "Die macht das so geschickt, die wickelt den Chef um den Finger …" Oder: "Der darf das, der hat eine Sonderstellung beim Vorstand." Und wenn das Top-Management doch einmal unwirsch auf eine Kritik reagiert: "Sehen Sie …"

  • Ausnahmen und Sonderfälle

Für Außenstehende hören sich solche Sichtweisen oft wie Verschwörungstheorien an, oder wie eine ins Paranoide spielende Angstfantasie. Doch aus subjektiver Sicht ist es nur stimmig, jedes Äußern von Kritik als unkalkulierbares Risiko anzusehen: Die oberen Ebenen haben die Sanktionsmacht ja objektiv, das ist nicht bloß eine Fantasie – und diese wahrgenommene Gefahr ist es, die das Handeln der Betreffenden bestimmt: Obwohl es wenige Indizien für ein "drohendes empfindliches Übel" gibt, erleben sie subjektiv eine permanente unausgesprochene Nötigung, der sie sich "sicherheitshalber" vorauseilend unterwerfen: "Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste."

  • Unterstellte Nötigung

In diesen Fällen kann man eigentlich nicht mehr davon sprechen, dass sie Mittäter ihrer eigenen Nötigung sind: Sie sind Haupttäter einer fiktiven Nötigung, die sich vorrangig in ihrem Kopf abspielt und von der ungewiss ist, ob sie außerhalb davon überhaupt existiert. Mit ihrem bedingungslosen Streben, sich bei ihren Chefs beliebt zu machen und sich für eine Karriere zu empfehlen, nötigen sie sich letztlich selbst dazu, Dinge zu tun oder geschehen zu lassen, die sie "eigentlich" suspekt finden. Unter dem Strich ist das eine Entscheidung, die viel klarer ist als sie scheint: De facto bezahlen sie diesen Preis im Voraus, wenn auch unter gelegentlichem Murren, weil ihnen die erhoffte Karriere das offenkundig wert ist. Und weil sie glauben – oder sich vormachen –, dass es nicht anders ginge.

  • Nicht Mit-, sondern Haupttäter

Ob solch ein selbstauferlegtes Schweigegelöbnis eine kluge Karrierestrategie ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Ein weitblickendes Management sollte eigentlich niemanden befördern, von dem niemals ein Wort der Kritik oder des Widerspruchs zu hören ist. Im Gegenteil, es müsste sich bemühen, solche Leute loszuwerden, weil ihre Zurückhaltung eine Gefahr für die Firma darstellt: Indem sie ihre Einschätzungen und Beobachtungen und ihr kritisches Feedback für sich behalten, enthalten sie ihren Chefs ja wertvolle Informationen vor, warnen sie zum Beispiel nicht vor Risiken und Gefahren. Das heißt, sie ließen ihre Chefs im Ernstfall ohne Vorwarnung ins Verderben rennen.

Andererseits lässt sich nicht bestreiten, dass es auch Firmen und Top-Manager gibt, bei denen eine solche Strategie erfolgversprechend ist.

  • Zweifelhafte Karrierestrategie

Wie hoch wäre der Preis?

 

Wie auch immer: Wer mit solch einem überangepassten Verhalten kein Problem hat, braucht sich auch nicht mit möglichen Alternativen auseinandersetzen. Anders diejenigen, die ein weniger gelenkiges Rückgrat haben und deshalb auf die Dauer unter den vielen Verbiegungen leiden: Sie kommen um die Frage nicht herum, wie viel Anpassung und Schweigen tatsächlich "überlebensnotwendig" ist bzw. wie hoch denn das Risiko von mehr Mut zu klaren Positionen und zu mehr Selbstbehauptung wäre.

  • Wie hoch wäre der Preis?

Das Problem dabei ist: Wer es nie versucht hat, der kann das nicht wissen. Ja, er weiß nicht einmal, ob es überhaupt ein Risiko gibt. Selbst wenn es Indizien gibt, die man in die eine oder in die andere Richtung deuten kann, ist die Einschätzung der Lage letztlich eine Frage der eigenen Annahmen und Hypothesen. Das schafft Raum für Katastrophenfantasien ebenso wie für ein naives Ausblenden jeglichen Risikos.

  • Risiko kaum einschätzbar

Paradoxerweise ist es daher leichter, mit expliziten Erpressungen (bzw. Nötigungen) umzugehen: "Wenn du meine Position nicht unterstützt, dann nehme ich dich nicht mit!" Damit ist der "Preis" klar beziffert; das macht die Sache relativ einfach. In diesem Fall muss man sich nur entscheiden, ob man diesen Preis nötigenfalls zu bezahlen bereit ist – wenn ja, kann man stolz sagen: "Tut mir leid, diese Position kann und werde ich nicht unterstützen."

  • Einfacher bei expliziten Nötigungen

Ängstliche Naturen können allerdings darauf verweisen, dass das Risiko selbst bei einer Drohung, die "beziffert" ist, möglicherweise noch höher ist: Vielleicht lässt einen der andere einen nicht bloß sitzen, wenn man seine Position nicht unterstützt, sondern nimmt einem seine Weigerung noch jahrelang übel. Zwar könnte man flapsig sagen, dass es vom Einzelfall abhängt, ob das überhaupt eine Strafe ist, doch für überbesorgte, aber auch besonders harmoniestrebende Menschen ist oft ein Grund, weshalb sie sich oft widerstrebend auf Dinge einlassen, die sie eigentlich nicht wollen.

  • Befürchtete dauerhafte Belastung der Beziehung

Das gilt erst recht für Fälle, in denen mehr auf dem Spiel steht: Oft wissen wir schlicht nicht, was das maximale Risiko ist. Möglicherweise setzt einen die Geschäftsleitung dann gedanklich auf die "schwarze Liste", sodass man alle Karrierehoffnungen fahren lassen kann … Auch hier steht man schlicht und einfach vor der Entscheidung, ob man bereit ist, dieses Risiko einzugehen. Falls nicht, bleibt einem keine andere Wahl als der Nötigung oder Erpressung nachzugeben. So hart und unerbittlich das klingen mag: Wer etwas um jeden Preis bekommen oder vermeiden möchte, muss bereit sein, jeden Preis dafür zu bezahlen.

  • Wer etwas um jeden Preis möchte, muss jeden Preis akzeptieren

Die Bereitschaft, den Preis zu bezahlen

 

Letztlich ist die einzige Möglichkeit, sich einer Nötigung oder Erpressung zu entziehen, für sich die Entscheidung zu treffen, das angedrohte oder befürchtete "empfindliche Übel", wenn nötig, in Kauf zu nehmen. Und diese Entscheidung muss vorbehaltlos sein, ohne Hintertüren und "eigentlich doch vielleicht lieber nicht". Eine halbe Entscheidung ist keine Entscheidung.

  • Vorbehaltlose Entscheidung

Was gar nicht zwangsläufig heißt, dass man diesen "Preis" tatsächlich bezahlen muss: Vielleicht lässt der Kollege seine Drohung ja auch fallen, wenn man sich als nicht erpressbar erweist. Vielleicht hat er die Fragwürdigkeit seiner Forderung sogar selbst erkannt – oder er hat es einfach mal versucht und nimmt einen, nachdem der Versuch gescheitert ist, grummelnd trotzdem mit.

  • Nicht jeder Preis wird tatsächlich fällig

Doch eine Garantie dafür gibt es nicht. Deshalb ist es auch kontraproduktiv, darauf zu spekulieren, dass man um den Preis herumkommt. Wer dies tut, weckt eher den Verdacht, dass er innerlich doch nicht bereit ist, den Preis zu bezahlen, und einknickt, wenn es hart auf hart auf hart geht. Denn wie der andere reagieren wird, weiß man vorher einfach nicht: Vielleicht macht er seine Drohung ja auch wahr. Deshalb muss man bei einer Absage an die gestellte Forderung innerlich bereit sein, zu Fuß zu gehen bzw. den Bus zu nehmen. Innere Unabhängigkeit und damit die Kraft, sich einer Nötigung zu entziehen, gewinnt man nur durch die vorbehaltlose Bereitschaft, den Preis nötigenfalls zu bezahlen.

  • Ungewissheit erkennen und akzeptieren

Das macht es erforderlich, sich mit diesem Preis auseinanderzusetzen und für sich zu klären, ob er tatsächlich unannehmbar hoch wäre. Diesen Fall kann es geben, aber er ist eher selten. Viel häufiger ist es ähnlich wie in unserem Beispiel: Da wäre es zwar unangenehm, die Mitfahrgelegenheit zu verlieren, aber bei nüchterner Betrachtung keine Katastrophe. Ähnlich bei den allermeisten Drohungen: Unangenehm wäre es meistens, wenn sie wahrgemacht würden, doch in den seltensten Fällen wäre es eine existenzielle Katastrophe. Selbst eine versagte Beförderung ist bei nüchterner Betrachtung nicht der Weltuntergang. Zumal es ja auch noch andere Firmen gibt.

  • Wäre der Preis wirklich inakzeptabel?

Um den Preis des Neinsagens richtig zu bewerten, ist es sinnvoll, sich auch mit den Kosten der Vermeidung dieses Preises auseinanderzusetzen: Wäre es uns die bequeme Mitfahrgelegenheit tatsächlich wert, eine Position zu unterstützen, die wir nicht teilen, und die Erfüllung dieser unredlichen Forderung als die "Kosten" des Mitnehmens zu akzeptieren? Zu welchen Verbiegungen oder "Gefälligkeiten" wären wir dann für eine Beförderung oder für einen anderen größeren Vorteil bereit?

Hier steht letztlich die Frage nach unserer Käuflichkeit im Raum: Wie viel von uns, unseren Überzeugungen, unserer Integrität und unserer Selbstachtung sind wir bereit, als Gegenleistung für einen angestrebten Vorteil aufzugeben?

  • Die Frage nach unserer Käuflichkeit

Zumindest in manchen Fällen haben wir übrigens durchaus Einfluss auf die Höhe des Preises. Beispielsweise ist der Preis, sich einer Ransomware-Erpressung zu widersetzen, umso höher, je schlechter und unzuverlässiger die eigene Datensicherungen sind. Wer dadurch nur die Arbeit eines Tages oder einiger Stunden verliert, tut sich leichter als jemand, der gar keine oder nur völlig veraltete Sicherungen hat. Also heißt es, vorbereitet zu sein.

Generell ist es klug, einseitige Abhängigkeiten zu vermeiden und für kritische Weichenstellungen einen "Plan B" zu haben: Falls ich in dieser Firma nicht weiter vorankomme, was wären meine Handlungsoptionen, und was wäre meine beste Alternative? Ratsam ist weiterhin, nichts zu tun, womit man erpresst werden könnte, auch wenn man dafür auf Vorteile verzichten muss. Eine ebenso simple wie gute Leitfrage ist im Zweifelsfall: Hätte ich ein Problem, wenn dies öffentlich würde?

  • Oft haben wir Einfluss auf den Preis

Es geht nicht um Bluffen

 

Die offensivste Form, eine Nötigung oder Erpressung ins Leere laufen zu lassen, ist, den angedrohten Preis im Voraus zu bezahlen und dies auch klar zu sagen: "Nur damit du Bescheid weißt, ich habe mir eine andere Mitfahrgelegenheit organisiert." Oder auch: "Dann gehe ich zu Fuß. Das ist mir lieber als mich erpressen zu lassen." In dem Moment, in dem man diese Entscheidung mitteilt, ist die Nötigung gescheitert. Oder genauer, schon in dem Moment, in dem wir uns definitiv entschieden haben, den Preis zu bezahlen.

  • Den Preis vorab bezahlen

Den Preis vorab zu bezahlen ist auch die perfekte Immunisierung gegen die beliebte Erpressung mit dem Öffentlich-Machen von Geheimnissen. Sie funktioniert ja nur, weil (und solange) der oder die Betroffene bestimmte Geheimnisse um jeden Preis (!) schützen möchte und bereit ist, dafür große Opfer zu bringen. Entschließt er sich dagegen, den Preis, so unangenehm er sein mag, in Kauf zu nehmen, nimmt er dem Erpresser jeglichen Wind aus den Segeln: "Machen Sie sich keine Mühe, ich habe meine Chefin bereits darüber informiert, dass Sie mich mit dieser Sache erpressen."

  • Erpressern den Wind aus den Segeln nehmen

Allerdings hat dieses Vorgehen einen Haken: Wer den Preis vorab bezahlt, bezahlt ihn definitiv und in voller Höhe. Das ist stolz und heroisch, aber auch relativ teuer und nicht die einzige mögliche Vorgehensweise. Nicht ganz so heldenhaft, aber unter Umständen deutlich "kostengünstiger" ist, wenn man den Mut findet, es darauf ankommen zu lassen: Auch damit gewinnt man schon viel an innerer Freiheit. Wenn das kein bloßer Bluff sein soll, erfordert allerdings auch das die Bereitschaft, den Preis zu bezahlen, sofern er fällig wird. Solange man nicht klar entschieden ist, den Preis nötigenfalls zu bezahlen, ist man nicht wirklich frei. Die innere Souveränität, sich einer Nötigung zu entziehen, gewinnt man erst dadurch, dass man den Preis in Kauf nimmt: Dann ist das eben so. Dann werde ich nicht mitgenommen / nicht befördert – oder was auch immer.

  • Voraussetzung für innere Freiheit

Den Preis zu akzeptieren, heißt keineswegs, ihn gutzuheißen – und es heißt auch nicht, ihn widerspruchslos zu schlucken. Wo es nicht von vornherein zwecklos ist, kann man sehr wohl gegen eine Nötigung oder Erpressung protestieren, etwa indem man Kollegen oder Vorgesetzten deutlich macht, dass man die Koppelung von Dingen, die nichts miteinander zu tun haben, nicht in Ordnung findet und sich dagegen verwahrt. Wo es Aussicht auf Erfolg hat, kann man seinen Protest auch öffentlich machen. Auch wenn das die Nötigung nicht immer beseitigt: In aller Regel erhöht es zumindest den Preis für den Nötiger oder Erpresser, weil es seiner Reputation schadet. Jedenfalls, sofern er noch einen Ruf zu verlieren hat.

  • Protest gegen Nötigung / Erpressung

Auch ein Protest setzt freilich die Bereitschaft voraus, nötigenfalls den Preis dafür zu bezahlen. Wer, so wie die oben erwähnten heldenhaften Führungs- und Nachwuchskräfte, um keinen Preis riskieren will, sich unbeliebt zu machen, darf gegen Nötigungen nicht protestieren. Um kein Stirnrunzeln auf sich zu ziehen, sollte er sich hüten, eine Nötigung oder Erpressung als solche zu bezeichnen, außer vielleicht anonym, im Dunklen und hinter vorgehaltener Hand: Stattdessen sollte er oder sie besser Freiwilligkeit heucheln oder, noch besser, Begeisterung.

  • Auch Protest kann einen Preis haben

Auch Erpressbarkeit hat ihren Preis

 

Eine dritte Option gibt es nicht: Wer nicht zum Mittäter seiner eigenen Nötigung oder Erpressung werden will, muss den Preis für seine Weigerung in Kauf nehmen – oft ohne genau zu wissen, worin der bestehen wird.

  • Kein Mittäter der eigenen Nötigung sein

Wer dazu neigt, Druck leicht nachzugeben, sollte sich bewusst machen, dass auch Erpressbarkeit – oder, netter ausgedrückt, Nachgiebigkeit – ihren Preis hat. Wer leicht zu nötigen ist, wird oft und von vielen genötigt, einfach weil es bei ihm oder ihr hohe Erfolgschancen verspricht. (Das sollten sich auch die Eltern bewusst machen, die mit der Forderung nach einer Cola konfrontiert werden, und bei ihrer zaghaften Weigerung bereits den Kopf einziehen, weil sie ahnen, wie die Geschichte enden wird.) Je mehr sich Kinder – und Erwachsene – daran gewöhnt haben, mit ihren Nötigungen durchzukommen, desto schwieriger ist es, sie von dieser Erwartung wieder zu "entwöhnen".

  • Hoher Preis von "Nachgiebigkeit"

Präzise auf den Punkt gebracht ist das in dem trockenen Satz: "Die anderen machen mit dir genau das, was sie glauben, mit dir machen zu können." Wer als nachgiebig gilt, an den wenden sich viele zuerst, wenn sie einen Wunsch haben, den ihnen nicht jeder erfüllen wird. Denn dort kostet es die geringste Mühe, zum Ziel zu kommen. Der Grat zwischen Hilfsbereitschaft und Erpressbarkeit ist zuweilen schmal. Die Nachgiebigen sind die klassischen willfährigen Opfer oder, härter gesagt, die (fast) "freiwilligen" Mittäter ihrer eigenen Nötigung.

  • Aufhören, freiwillige Mittäter zu sein

Wer also das Gefühl hat, ziemlich häufig genötigt oder erpresst zu werden, sollte sich nicht beklagen, sondern es als Feedback verstehen: Offenbar sind dann viele in seiner Umgebung der Meinung, dass er ein leichtes Opfer ist. Und es besteht Grund zu der Befürchtung, dass sie damit recht haben. Wem das nicht gefällt, der sollte nicht hadern, sondern sein eigenes Verhalten überprüfen. Denn der Satz "Die anderen machen mit dir genau das, was sie glauben, mit dir machen zu können" heißt ja in der Umkehrung auch: Wenn mir nicht gefällt, was die anderen mit mir machen, bin ich frei, es nicht mehr mitzumachen.

  • Nicht mehr alles mit sich machen lassen

Umgekehrt hat der Mut, sich gegen Nötigungen zu behaupten, auch Vorteile. Mit hoher Wahrscheinlichkeit gewinnt man an Respekt – wenn auch nicht bei allen an Beliebtheit –, wenn man zeigt, dass man nicht alles mitmacht und dafür auch Nachteile in Kauf zu nehmen bereit ist. Das ist ohne Zweifel ein Stück Arbeit, wenn man bislang im Ruf steht, ein leichtes Opfer zu sein. Doch hat sich erst einmal herumgesprochen, dass es nicht mehr funktioniert, ist man zumindest vor "Gelegenheitserpressern" ziemlich sicher: Sobald die begriffen haben, dass man keiner von denen (mehr) ist, bei denen sie leichtes Spiel haben, versuchen sie es gar nicht mehr.

  • Zugewinn an Respekt

Bei notorischen Erpressern bzw. Nötigern ist es etwas mühsamer: Sie sind auf ein Umfeld angewiesen, das sich nötigen lässt. Und damit dieses Umfeld spurt, müssen sie es disziplinieren. Daher nehmen sie gegenüber Personen, die ihren Spielchen nicht (mehr) mitspielen, oft eine feindselige Haltung ein. Das führt meist dazu, dass sich rasch Spannungen aufbauen und man nach einigen heftigen Auseinandersetzungen früher oder später getrennter Wege geht – oder sich zumindest aus dem Weg. Was aber in der Regel kein Schaden ist.

  • Notorische Erpresser brauchen leichte Opfer

Es wird schwerer, bevor es leichter wird

 

Wer mit der Entscheidung liebäugelt, nicht länger Komplize seiner eigenen Nötigung oder Erpressung sein zu wollen, sollte sich freilich darauf gefasst machen, dass er oder sie dieses Ziel nicht kampflos erreichen wird. Denn wenn sie nicht mehr so gefügig mitspielen wie gewohnt, sagen diejenigen, für die sie bislang ein leichtes Opfer waren, nicht etwa: "Schade, dann müssen wir uns halt ein anderes Opfer suchen." Stattdessen erhöhen sie den Druck, um sie wieder unter Kontrolle zu bringen: "Das wollen wir doch mal sehen!" Wer so lange gefügiges Opfer war, den lässt man nicht so leicht vom Haken.

Aber es hilft nichts: Einen leichten Weg, sich aus der Erpressungsfalle zu befreien, gibt es nicht. Oder falls doch, kenne ich ihn nicht und bin für Hinweise dankbar.

  • Widerstand zu erwarten

Am leichtesten lässt sich das wiederum bei Kindern beobachten. Wenn die Eltern unvorbereitet in die Auseinandersetzung gehen, sich einfach nur vorgenommen haben, beim nächsten Mal nicht so leicht einzuknicken, dann haben sie schlechte Karten. Dann werden sie zwar, genau wie sie es sich vorgenommen haben, kämpfen, statt sofort einzuknicken. Aber der Kampf wird eskalieren, bis ihnen der Preis irgendwann zu hoch wird und sie schließlich doch nachgeben – und umso vernichtender wird ihre Niederlage sein. Kinder haben für solche Zwecke einfach die besseren Nerven. Für sie ist es eher eine Bestärkung, wenn das ganze Restaurant auf sie schaut – während ihre Eltern vor lauter Peinlichkeit längst schweißgebadet sind.

  • Lieber gleich nachgeben als nach vergeblichem Kampf

Es brächte auch nichts, sich vorzunehmen, den Kampf bis zum bitteren Ende durchzustehen. Das ließe außer Acht, dass es sich hier um einen "asymmetrischen Konflikt" handelt: Die Kinder können sich in dieser Situation (beinahe) aufführen, wie sie wollen; von den Eltern hingegen wird erwartet, dass sie die "Vernünftigen" sind und ihre Kinder zur Raison bringen (oder zumindest dazu, sich wieder einigermaßen ruhig zu verhalten). Spätestens wenn der Unterhaltungswert des aufgeführten Dramas nachlässt, wird von ihnen erwartet, dass sie die Episode irgendwie zu Ende bringen. Das heißt, die Kinder brauchen nur durchzuhalten, bis die Eltern nicht mehr durchhalten können – und das schaffen sie in der Regel.

  • Den Kampf eisern durchzuhalten, ist meist keine Option

Was ebenfalls nichts bringt, ist, den Streit mit Drohungen zu eskalieren: "Wenn du jetzt nicht sofort Ruhe gibst, gehen wir auf der Stelle nach Hause!" Damit bringt man sich nur selbst in Zugzwang – und wird zum Papiertiger, wenn man seine Drohung nicht einlöst. Drohungen gehen allzu leicht nach hinten los: Die Absicht dahinter ist zwar, die Gegenseite zum Einlenken zu bewegen, doch wenn die nicht nachgibt, zeigt sich die Schattenseite, nämlich, dass man mit seiner Drohung eine "Selbstbindung" eingegangen ist: Man kann dann nicht mehr frei entscheiden, welchen Schritt man als nächstes macht, man hat sich in die Zwickmühle manövriert, entweder seine Drohung wahrzumachen oder einzuknicken.

  • Vorsicht, mit Drohungen bindet man sich selbst

Logische Konsequenzen statt Sanktionen

 

Aber wie kann dann eine Lösung aussehen? Erinnern wir uns an das, was wir oben als logische Konsequenzen kennengelernt haben. Was wäre denn die logische Konsequenz, wenn Kinder ihre Eltern in öffentlichen Situationen dazu nötigen, ihre Wünsche zu erfüllen, indem sie Dramen inszenieren oder androhen? Falls die Eltern das nicht (mehr) mit sich machen lassen wollen, könnte eine logische Konsequenz sein, nicht mehr gemeinsam auszugehen, jedenfalls nicht gemeinsam mit den Kindern. Ebenso wäre es eine logische Konsequenz, Situationen, in denen Derartiges vorkommt bzw. versucht wird, umgehend zu beenden, etwa durch Verlassen des Restaurants oder Geschäfts.

  • Noch einmal: Die logischen Konsequenzen

Erinnern wir uns an den Unterschied zwischen einer logischen Konsequenz und einer Strafe. Die Aussage "Wenn du noch einmal …, dann …" ist eine Strafdrohung, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine Eskalation mündet. Anders die Aussage: "Ich will mich nicht mehr nötigen oder erpressen lassen. Deshalb werde ich derartigen Situationen nach Möglichkeit aus dem Weg gehen bzw. sie umgehend beenden." Das ist keine Drohung, es ist, vor allem wenn es in unaufgeregtem sachlichem Ton vorgebracht wird, eine Information darüber, wie man zu handeln gedenkt – ähnlich wie: "Ich gehe zu Fuß."

  • Nicht strafen, nur konsequent sein

Gerade wenn die Sache eine längere Vorgeschichte erfolgreicher Nötigungen hat, ist es ziemlich sicher, dass diese Ankündigung auf die Probe gestellt wird. Damit sind wir wieder bei der Bereitschaft, nötigenfalls den Preis zu bezahlen. Hier entscheidet sich das Spiel. Dann kann man im Ernstfall noch einmal an die gesetzte Regel erinnern, aber wenn das nichts bewirkt, muss man den Restaurantbesuch abbrechen, auch wenn gerade das Essen serviert wird oder der Nachtisch lockt. Das ist ähnlich unerfreulich wie den Bus zu nehmen, aber es ist der Preis: Die einzige Alternative dazu, aus Liebe zum Nachtisch der Nötigung nachzugeben. (Auch das ist eine klare Priorisierung.)

  • Nötigenfalls den Preis bezahlen

Je länger Kinder den alten Zustand gewohnt waren und sich darin komfortabel eingerichtet hatten, desto unwahrscheinlicher ist, dass sie sich nach einem einmaligen Scheitern geschlagen geben. Mindestens ein "Rückspiel" wird es geben, das erfolgreich bestanden werden muss; vielleicht auch mehrere, bevor sie sich mit der veränderten Sachlage abfinden. Und diese "Rückspiele" sind oft sehr präzise auf die eigenen wunden Punkte zugeschnitten: Wenn es um ihre eigenen Interessen geht, können Menschen schon in jungen Jahren sehr "feinfühlig" sein. Oft bleibt einem da nur, die Zähne zusammenzubeißen und die Sache durchzustehen.

  • Absehbare Rückspiele

Tatsächlich wird es meist erst einmal schwerer, bevor es leichter wird. Was im Umkehrschluss allerdings auch die tröstliche Nachricht birgt: Hat man diese schwierige Phase durchgestanden, wird es leichter. Wenn die Leute – Erwachsene wie Kinder – erst einmal verstanden haben, dass man kaum zu nötigen ist, versuchen es die allermeisten auch gar nicht mehr. Aber dieses zähneknirschende Kompliment "Bei dem hat es ja eh keinen Zweck!" muss man sich erst einmal verdienen, vor allem wenn man aus der Vergangenheit in einem anderen Ruf steht.

  • Durststrecke durchstehen

Klarheit und Festigkeit ohne Zorn

 

Bei Erwachsenen ist es im Grunde nicht viel anders, nur dass sie meist stärker auf bestimmte Muster festgelegt sind und – das ist die Kehrseite der Spezialisierung – in ihrem Vorgehen meist nicht mehr so kreativ und flexibel wie Kinder. Aber auch sie sind so empört, als würde ihnen ein jahrhundertealtes Gewohnheitsrecht entzogen, wenn sich jemand, bei dem es bislang immer geklappt hat, plötzlich nicht mehr nötigen lässt. Entsprechend tun sie alles in ihren Kräften Stehende, um die gewohnte alte Ordnung (und ihre daraus resultierenden Vorteile) wiederherzustellen.

  • Erstaunliche Ähnlichkeiten

Das heißt, auch hier steht erst einmal eine harte Auseinandersetzung bevor, möglicherweise über mehrere Runden, bevor der "neue Normalzustand" akzeptiert oder zumindest hingenommen wird. Diejenigen, die bislang gewohnt waren, mit ihren Forderungen durchzukommen, werden zuverlässig erst einmal den Druck erhöhen, wenn ihr gewohntes Vorgehen nicht zu dem gewohnten schnellen Erfolg führt. Das wird verständlich, wenn man sich in ihre Lage versetzt: Ihnen wird plötzlich der Teppich unter den Füßen weggezogen, auf dem sie sich über lange Zeit sicher und komfortabel bewegt haben. Plötzlich funktioniert die gewohnte Ordnung der Dinge nicht mehr, was auch ihre Autorität, ihre Privilegien und/oder Position in Frage stellt. Ihr natürlicher Reflex ist, alles zu tun, um die alte Ordnung wiederherzustellen.

  • Verteidigung der gewohnten Ordnung

Damit sich daraus nicht ein erbitterter Machtkampf entwickelt, ist es ratsam, sich an eine nur scheinbar paradoxe Regel des Individualpsychologen Rudolf Dreikurs (1897 – 1972) zu halten: "Weder streiten noch nachgeben." Aber gibt es überhaupt eine dritte Möglichkeit? Ja, die gibt es. In den Worten von Dreikurs besteht sie darin, "freundlich und fest" die eigene Position zu behaupten, sich also, ohne aggressiv oder feindselig zu werden, schlicht zu weigern, der Nötigung nachzugeben. Und zwar in der Bereitschaft, den Preis dafür zu bezahlen, gleich ob er in Liebesentzug besteht, in Strafmaßnahmen oder in der Verweigerung eines Entgegenkommens an anderer Stelle.

  • Weder streiten noch nachgeben

"Weder streiten noch nachgeben" heißt: Man muss nicht gegen die andere Seite kämpfen, laut werden, sich auf heftige Wortwechsel einlassen oder mit Türen knallen, es reicht, in aller Ruhe und Gelassenheit bei seiner Haltung zu bleiben, statt der Nötigung nachzugeben. Genau wie bei den Kindern im Restaurant ist es sogar kontraproduktiv, die Stimme zu erheben. Zudem ist es überflüssig, denn am Ende zählt nur die Festigkeit der eigenen Haltung und nicht die Dramatik, mit der sie vorgetragen wird. Routinierte Erpresser wissen oder ahnen ohnehin, dass ein aufgeregt-empörter Protest meist der Vorbote des Einknickens ist. Also bestärkt er sie eher darin, den Druck aufrechtzuerhalten.

  • Freundlich und fest seine Position behaupten

Weder zu streiten noch nachzugeben, ist auch aus einem anderen Grund klug: Je mehr man die Situation als Machtkampf anlegt (oder sie dazu eskalieren lässt), desto schwerer macht man es der anderen Seite, die eigene Weigerung, der Nötigung nachzugeben, zu akzeptieren. Denn damit würde sie eine Niederlage einräumen, und zwar auf einem Feld, auf dem sie bislang zu gewinnen gewöhnt war. Deshalb ist es ratsam, sein Nein so zu formulieren, dass es den Adressaten nicht unnötig vor den Kopf stößt oder provoziert. Je mehr man ihm eine demütigende Niederlage beizubringen versucht, desto wütender wird er mit dem Mut der Verzweiflung kämpfen.

  • Keine Niederlage der Gegenseite anstreben

Die richtige Gelegenheit wählen

 

Nüchternheit und Gelassenheit sind noch aus einem weiteren Grund angebracht. Denn ob man sich am Ende gegen eine Nötigung oder Erpressung durchsetzt, ist auch eine Frage davon, auf welchem Feld man die Auseinandersetzung führt. Deshalb empfiehlt es sich, sich an die alte strategische Regel "Choose your battles" zu erinnern, auch wenn sie etwas militaristisch klingt. Doch die nüchterne Wahrheit ist: Es ist nicht ratsam, solch eine Auseinandersetzung auf einem Feld zu führen, bei dem man den vollen Preis letzten Endes nicht bezahlen kann oder will.

  • "Choose your battles"

Um es noch einmal am Beispiel der Kinder zu illustrieren: Auch wenn die Eltern das erpresserische Verhalten ihres Nachwuchses noch so sehr stört und sie darauf brennen, endlich wieder für (aus ihrer Sicht) geordnete Verhältnisse zu sorgen: Der 60. Geburtstag der Großmutter ist vermutlich nicht die richtige Gelegenheit, die überfällige Auseinandersetzung zu führen. Denn am Ende können und werden es die Eltern wahrscheinlich nicht so weit kommen lassen, dass der Konflikt die gesamte Geburtstagsfeier ruiniert.

  • Falscher "Kampfplatz"

Also werden sie schließlich einlenken, bevor es zum Eklat kommt – und die Auseinandersetzung damit "verlieren". Dann aber ist die Situation schlechter als zuvor, denn eine verlorene Auseinandersetzung ist natürlich eine Entmutigung für diejenigen, die sie verloren haben, und eine Ermutigung und Bestätigung für die Gewinner. Da hilft es auch wenig, beleidigt zu sein, übel zu nehmen oder vor Wut in die Tischkante zu beißen.

  • … bedingt Niederlage

Wichtig ist vielmehr, sich klarzumachen: Die Eltern sind bei einer solchen Auseinandersetzung in der taktisch schwierigeren Position. Wie schon Dreikurs festgestellt hat, können die Kinder alles auf eine Karte setzen: Sie können ihre gesamte Kreativität, Kraft und Energie in den Konflikt stecken, sozusagen ohne Rücksicht auf Verluste. Die Eltern hingegen müssen gleichzeitig darauf achten, die soziale Situation insgesamt halbwegs in der Balance zu halten, also beispielsweise im Restaurant oder auf der Geburtstagsfeier einen Eklat zu vermeiden, andere Beteiligte nicht zu verärgern – und am Ende auch ihre Kinder, wenn es notwendig wird, vor sich selbst und dem eigenen Furor schützen. Nicht zuletzt machen sich die Kinder in aller Regel auch weniger Stress, was "die Leute denken".

  • Schwierige taktische Position

Deshalb ist ein wenig strategisches Denken im Vorfeld ratsam: Bevor man eine Auseinandersetzung startet, sollte man durchdenken, wie sie verlaufen und sich entwickeln kann. Genau wie die Eltern auf der Geburtstagsfeier der Großmutter sind wir eben bei realistischer Betrachtung nicht immer und überall in der Lage, den Preis zu bezahlen. Und wenn wir wissen oder ahnen, dass wir am Ende doch einlenken werden, dann ist es klüger, auf diesem Feld einer Auseinandersetzung von vornherein aus dem Weg zu gehen, weil wir mit einer Niederlage nur unsere Position schwächen würden.

  • Strategisches Denken

Wer weiß oder ahnt, dass er eine Auseinandersetzung verlieren wird, weil er letztlich den Preis nicht bezahlen kann oder will, für den ist es taktisch sogar klug, rasch einzulenken und nicht erst nach langem Widerstand. Denn je später man nachgibt, desto mehr belohnt und ermutigt man die Gegenseite für ihre Beharrlichkeit. Allerdings ist es dabei auch nützlich, sich in die Situation des Gegenübers zu versetzen und zu überlegen, wie weit er es vermutlich treiben wird und ab wann für ihn der "Preis" zu hoch wird: Das kann zum Beispiel bei Vorgesetzten und Kollegen durchaus anders sein als bei "unerbittlichen" Kindern.

  • Wenn einlenken, dann rasch

"Choose your battles", heißt jedoch nicht, eine Auseinandersetzung nur dann zu riskieren, wenn der Erfolg hundertprozentig sicher ist. Denn das ist er so gut wie nie. Es heißt nur, Auseinandersetzungen zu vermeiden, bei denen sich mit etwas Weitblick absehen lässt, dass man sie nicht durchstehen wird, weil der Preis definitiv zu hoch wäre. Und es heißt auch, die Spielzüge der Gegenseite und den Verlauf einer möglichen Eskalation so weit zu durchdenken, dass man nicht von deren ersten Spielzügen auf dem falschen Fuß erwischt wird.

  • Möglichen Verlauf vorausdenken


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