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Reaktanz: Die Feinmechanik des Widerstands |
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Winfried Berner, Die Umsetzungsberatung |
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Verändern macht mehr Spaß als Verändert-Werden. Gerade deshalb
ist es wichtig zu verstehen, was die Forderung nach Veränderungen
in Menschen auslöst – gleich ob sie vom Vorstand höchstpersönlich
kommt, vom direkten Vorgesetzten oder aus irgendeinem Veränderungsprojekt.
Mit dem Verlangen nach konkreten Verhaltensänderungen engen wir
den Handlungsspielraum der Adressaten ein – oder versuchen es zumindest.
Das löst unweigerlich Abwehrreaktionen aus, die in der Sozialpsychologie
unter dem Begriff "Reaktanz" zusammengefasst werden. |
Eingriff in den Handlungs-spielraum
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Solange Veränderungsforderungen global und intergalaktisch bleiben
("Wir müssen unser Denken in allen Bereichen konsequent am Nutzen
für unsere Kunden ausrichten!"), hat niemand etwas dagegen. Wenn
die Worte geschickt gewählt wurden, stimmen viele Mitarbeiter sogar
zu (und finden, dass die anderen ihr Verhalten nun wirklich ändern
sollten). Sobald es jedoch ans Eingemachte geht, das heißt an konkrete
Veränderungen der eigenen Gewohnheiten, kippt das Bild um. Was dann
abläuft, ist wie aus dem sozialpsychologischen Lehrbuch: Es entsteht
Reaktanz und daraus Widerstand. |
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Erkenntnisse der sozialpsychologischen Forschung |
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"Der Mensch ist motiviert, seine Freiheiten zu erhalten", fasst
Prof. Werner Herkner die Reaktanztheorie von J. W. Brehm (1966,
1972) zusammen: "Wenn bisher verfügbare (oder als verfügbar angenommene)
Verhaltens- oder Ergebnisalternativen blockiert oder auch nur bedroht
werden, entsteht Reaktanz. Reaktanz ist ein Erregungs- oder Motivationszustand,
der darauf abzielt, die bedrohte, eingeengte oder blockierte Freiheit
wieder herzustellen." (Herkner, W. (2001): Lehrbuch der Sozialpsychologie). |
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Der Freiheitsbegriff, von dem hier die Rede ist, ist hier nicht
philosophischer oder politischer Natur, sondern bezieht sich ganz
banal auf die Menge der Handlungsalternativen, die einem Menschen
in einer gegebenen Situation – zum Beispiel in seinem Job – zu Verfügung
stehen. Interessanterweise zählen dazu nicht nur solche Handlungsoptionen,
von denen man tatsächlich Gebrauch macht, sondern auch solche, die
man noch nie genutzt hat und vielleicht auch nie genutzt hätte.
So wird zum Beispiel die Schließung eines Theaters nicht nur von
denjenigen als Einschränkung ihrer Handlungsfreiheit angesehen,
die dieses Theater regelmäßig oder wenigstens gelegentlich besucht
haben, sondern auch von diejenigen, die es zwar nie getan, dies
zumindest als Möglichkeit betrachtet haben. Völlig unberührt
lassen wird die Schließung nur diejenigen, die sich nicht für Theater interessieren und es daher überhaupt nicht als Möglichkeit der Freizeitgestaltung in Betracht gezogen
haben. |
Menge der Handlungs-
optionen |
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Was danach passiert, ist vorhersagbar – hier stimmen sozialpsychologische
Forschung und Lebenserfahrung voll überein. Zunächst kommt es zu
einer "Aufwertung der eliminierten Alternative" – mit anderen Worten,
was verboten oder bedroht ist, gewinnt gerade dadurch an Attaktivität ("Die Kirschen
in Nachbars Garten ..."). Das heißt, die Bahnlinie, die wir seit
Jahren nicht mehr benutzt, oder das Theater, das wir noch nie besucht
haben, wird schlagartig wertvoller. Auf die drohende Einschränkung
unserer Handlungsmöglichkeiten reagieren wir mit Verstimmung und
Ärger, unter Umständen sogar mit Aggression und Wut. |
Aufwertung der eliminierten
Alternative |
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Manche beteiligen sich dann zum Beispiel an Unterschriftensammlungen
oder Demonstrationen; andere gehen mit ihrer Verärgerung sozusagen
"in den Untergrund" und grollen den "Schuldigen" im Stillen oder
leisten verdeckten Widerstand. Bei
Veränderungen innerhalb von Unternehmen ist verdeckter Widerstand
sehr viel häufiger anzutreffen als offener, weil die wenigsten Mitarbeiter
und Führungskräfte es riskieren, offen zu protestieren; stattdessen
leisten sie "Widerstand durch Zustimmung", das heißt, sie legen gegenüber ihren Vorgesetzten Lippenbekenntnisse
ab und tun in unbeobachteten Momenten alles, um die bedrohten Freiheiten
wieder herzustellen. Nicht selten entstehen daraus "offene Rechnungen"
und verdeckte Konflikte. |
Offener und verdeckter
Widerstand |
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Ärger, Aggression und Wut sind um so größer, (1) je wichtiger den
Betroffenen die eliminierte Alternative war, (2) je fester sie auf
ihr Bestehen vertraut haben und (3) je größer das Ausmaß der Freiheitseinschränkung
ist. Wenn also von vielen Handlungsoptionen nur eine gekippt wird,
ist die Reaktanz geringer als wenn alle Möglichkeiten bis auf eine
einzige eliminiert werden. Hat etwa ein Unternehmen seinen Kunden
bislang fünf Zahlungswege angeboten und streicht nun die Zahlungsmöglichkeit
per Rechnung, wird der Zorn der Kunden geringer sein als wenn ab
sofort nur noch die Zahlung per Kreditkarte möglich sein soll. Im ersten Fall wird jedoch die Empörung derjenigen Kunden am größten
sein, die bislang aus guten Gründen per Rechnung bezahlt haben
(hohe Wichtigkeit der Alternative). |
Ausmaß der Freiheits-
einschränkung |
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Formen und Etappen des Widerstands |
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Deshalb haben Verhaltensvorschriften ein besonders hohes Reaktanzpotenzial.
Denn jemanden ein bestimmtes Verhalten vorzuschreiben – zum Beispiel
beim Umgang mit dem Kunden immer zu lächeln –, heißt ja nicht anderes
als ihm sämtliche anderen Handlungsoptionen zu verbieten. So etwas
ist auch für diejenigen Mitarbeiter ein starker Freiheitsverlust,
die bislang beim Umgang mit dem Kunden "freiwillig" immer gelächelt
haben. Denn sie verlieren damit nicht nur die theoretische Möglichkeit,
sich notfalls auch einmal anders zu verhalten – sie verlieren auch
die Freiheit, freiwillig nett zu den Kunden zu sein. |
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Je stärker die Einschränkung empfunden wird, desto wahrscheinlicher
kommt es zu spontanen Trotzreaktionen, also zu bewussten Zuwiderhandlungen
gegen die Vorschrift (oder das Verbot). Das kann so weit gehen,
dass Mitarbeiter, die bislang freiwillig immer gelächelt haben,
sich nun plötzlich bewusst anders verhalten – nicht, weil sie die
Kunden nicht mehr mögen, sondern weil sie ihre Freiheit verteidigen,
sich selbstbestimmt zu verhalten. Eine andere Form der Trotzreaktion
ist, die Vorschrift bewusst sinnwidrig auszuführen – zum Beispiel
die Kunden so anzugrinsen, dass es ihnen ungemütlich wird. |
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Mit solchen Trotzreaktionen muss man zum Beispiel auch bei allen
forcierten Versuchen der Kulturveränderung
rechnen, also beispielsweise dann, wenn Mitarbeiter oder Manager
das Gefühl haben, dass ihnen Führungsgrundsätze
oder Leitlinien
der Zusammenarbeit aufoktroyiert
werden sollen. (Das heißt nicht, dass man so etwas unter keinen
Umständen tun darf – aber man sollte wissen, worauf man sich einlässt.) |
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Wurden die Trotzreaktionen unterbunden, folgt die nächste Phase,
die mürrische Kooperation. In sie mischen sich schon bald schleichende
Versuche, das Rad etappenweise zurückzudrehen. Beispielsweise wurde
in einem Unternehmen die Regelung eingeführt, dass Reisekostenabrechnungen
bis spätestens Dienstag Mittag der Folgewoche in der Buchhaltung
eingereicht sein mussten. Natürlich probierten einige Mitarbeiter
aus, was passierte, wenn sie die Abrechnung doch, wie gewohnt, erst
im Laufe der Woche einreichten. Als sich herumsprach, dass man damit
nicht durchkam, wurden die meisten Abrechnungen (fast) pünktlich
abgegeben, aber ungewöhnlich viele davon waren unvollständig. Und
die meisten Abrechnungen wurden erst ganz knapp vor oder kurz nach
"Torschluss" um 11:55 oder 12:10 Uhr abgegeben; auch dabei handelte
es sich natürlich um verdeckten Widerstand. |
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Trotzdem schien die Regelung zunächst durchgesetzt. Doch im Laufe
der Zeit riss, wie es der Leiter der Buchhandlung formulierte, "der
alte Schlendrian wieder ein". Aber natürlich handelte es sich in Wirklichkeit
nicht um Schlendrian – vielmehr fanden aktive, genau kalkulierte
Tests statt, wie groß die Entschlossenheit des Managements zur Durchsetzung der Regelungen
war und wo die Schwelle der "gerade noch tolerierten Regelüberschreitung"
lag. Nach einiger Zeit des "Dehnens und Streckens" folgte ein strenges
Rundschreiben der Geschäftsleitung,
in dem "noch einmal mit allem Nachdruck" auf den Abgabetermin Dienstag
12:00 Uhr hingewiesen wurde. Der Effekt war ein sofortiger Anstieg
der Disziplin – und deren baldige erneute Erosion. |
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Daraufhin riss dem Management nach eigenem Bekunden der Geduldsfaden.
Es verhängte eine Sanktion von 50 Mark für jede verspätet eingereichte Abrechnung;
dieser Betrag wurde unmittelbar von der Reisekostenerstattung abgezogen.
Das half. Zwar gab es einige Mitarbeiter, die in theatralischen
Verhandlungen mit Mitarbeitern der Buchhaltung zu erreichen versuchten,
dass der Abzug bei ihnen aus hochwichtigen Gründen nicht vorgenommen
wurde. Aber selbst diese Mitarbeiter lieferten ihre Reisekostenabrechnungen
fortan pünktlich ab. |
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Ein Happy End also? Sicherlich, was die Durchsetzung der Regelung
– und damit die gewünschte Veränderung der Unternehmenskultur
– betrifft. Für unser Thema kann man daraus lernen, dass Reaktanz
nicht ewig anhält. Nach einer Weile setzt, wenn der Widerstand
nicht erfolgreich war, eine Gewöhnung an den neuen Zustand ein;
die eliminierte Alternative schmerzt nicht mehr, oder zumindest
nicht mehr sehr. (Was in der Praxis auch damit zu tun haben kann,
dass einige Kunden oder Mitarbeiter, die der eliminierten Alternative
sehr hohen Wert beimaßen, sich vom Unternehmen abgewendet haben.) |
Gewöhnung lässt Reaktanz
abklingen |
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Allerdings wurde die Unternehmenskultur im obigen Beispiel in doppelter
Hinsicht verändert. Denn es wurde nicht nur eine neue Regelung eingeführt
und durchgesetzt; im Zuge der Überwindung des Widerstands
veränderte sich zugleich auch der Umgang des Managements mit den
Mitarbeitern. Das Management zeigte, dass es bereit war, zur Durchsetzung
seiner Vorstellungen Sanktionen einzusetzen. Das hierarchisierte die Beziehungen
zwischen unten und oben – mit der Nebenwirkung, dass einerseits
die Durchsetzung künftiger Regelungen vermutlich erleichtert wurde,
dass sich aber andererseits die Loyalität
der Mitarbeiter, die stolz auf die bisherige partnerschaftliche
Unternehmenskultur waren, verringerte. Zugleich machte das Management
damit einen (weiteren) Schritt in Richtung auf ein mechanistisches
Menschenbild: "Kommunikation hilft eben doch nichts", war seine
Schlussfolgerung. "Das Einzige, was wirkt, sind
Sanktionen." |
Risiken und Neben-
wirkungen |
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© 2002 Winfried Berner / letzte Aktualisierung 8.3.2015 – vollständige oder auszugsweise Wiedergabe, gleich in welcher Form, honorarpflichtig und nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung / Zitate im üblichen Umfang mit Quellenangabe gemäß wiss. Zitationsregeln zulässig. Näheres siehe Nutzungsbedingungen.
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