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Konflikteskalation: Wie die Unversöhnlichkeit stufenweise wächst

 

Winfried Berner, Die Umsetzungsberatung

 

"Mit wem soll man denn Frieden schließen, wenn nicht mit seinen Feinden?", antwortete der frühere israelische Ministerpräsident Shimon Peres lakonisch auf die Frage eines Reporters, ob es ihm nicht zuwider sei, einem Menschen wie Yassir Arafat die Hand zu schütteln, der für den Tod so vieler Israelis verantwortlich sei. So viel Weisheit ist selten, nicht nur im Nahen Osten. In der Tat ist eine Versöhnung überhaupt nur dort möglich und sinnvoll, wo ein eskalierter Konflikt vorliegt. Doch die meisten Menschen würden sich in solch einer Situation bereitwillig mit jedem Menschen auf der Welt versöhnen – nur nicht mit diesem.

  • Versöhnung ja – aber nicht mit Feinden!
  • Doch ist es nicht nur ein Mangel an Weisheit und Versöhnungsbereitschaft, der Konflikte eskalieren lässt. Hinzu kommt eine für die direkt Betroffenen schwer durchschaubare Dynamik der Eskalation. Der Konfliktforscher Friedrich Glasl hat das einmal sehr treffend so ausgedrückt: Am Anfang hat man noch einen Konflikt – später hat einen der Konflikt. Beispielsweise verändert sich im Konflikt schleichend unsere Wahrnehmung: Der Kontrahent wird vom Gegner zum Feind; aus einem "ganz normalen" Menschen mit allen seinen Stärken und Schwächen, der einem früher vielleicht sogar sympathisch war, wird im Laufe der Eskalation erst ein Unmensch, an dem man keine positiven Seiten mehr erkennen kann, und dann ein Untermensch, dessen Vernichtung im Grunde ein Dienst an der Menschheit wäre. Zugleich wird die eigene Position seltsam verklärt – eine Polarisierung, die Glasl prägnant als ein "Engel-Teufel-Bild" bezeichnet. Im Laufe der Eskalation unternehmen typischerweise beide Seiten Spielzüge, die eigentlich die Intention haben, den Konflikt zu beenden, aber stattdessen immer tiefer in die Eskalation hineinführen.

  • Geheimnisvolle Dynamik
  • Doch bevor wir uns genauer mit den Mechanismen der Konflikteskalation befassen, muss ein mögliches Missverständnis ausgeräumt werden: In großen Firmen wird der Begriff Eskalation zuweilen mit einer ganz anderen Bedeutung verwendet. Zum Opfer dieser Doppeldeutigkeit wurde ich selbst einmal in meinen ersten Beraterjahren: Ich muss wohl ziemlich dumm geschaut haben, als ein Manager nach einer längeren und ergebnislosen Diskussion im Beisein seiner Kontrahenten seelenruhig feststellte: "Dann müssen wir den Konflikt eben eskalieren!" Und ich war noch verblüffter, als die anderen Anwesenden nickten, als sei ein Beschluss zur Eskalation die natürlichste Sache der Welt. Doch stellte sich rasch heraus, dass sie damit nicht meinten, die Jackets abzulegen und sich gegenseitig auf die Köpfe zu klopfen, sondern dass sie die Streitfrage ihrem Chef vorlegen wollten. In dieser Wortbedeutung bedeutet "Eskalation" nicht die Zuspitzung eines Konflikts, sondern es beschreibt einen Weg, genau dies zu vermeiden, und zwar durch einen formalen und von allen Seiten akzeptierten Konfliktregulierungsmechanismus. (Eine ähnliche konfliktregulierende Funktion haben die Einigungsstelle nach dem Betriebsverfassungsgesetz und die Anrufung eines Schlichters zum Beispiel bei Tarifverhandlungen.) Wenn im Folgenden aber von der Eskalation von Konflikten die Rede ist, geht es nicht um das Beschreiten eines formalen Wegs zu deren Beilegung, sondern um das Sich-Zuspitzen und Hochschaukeln von Auseinandersetzungen.

  • Vorsicht: Doppelte Bedeutung
  • Von der Meinungsverschiedenheit zum emotionalen Konflikt

     

    Wir alle haben schon vielfach erlebt, wie sich eine ganz normale Meinungsverschiedenheit unmerklich in einen emotionalen Konflikt verwandelt, der zunehmend an Schärfe gewinnt und sich schließlich in einen Kampf um Sieg oder Niederlage umschlägt. Aber was ist eigentlich genau der Unterschied zwischen diesen verschiedenen Stufen oder Stadien?

  • Schleichende Verhärtung
  • Sachliche Meinungsverschiedenheiten sind eine völlig alltägliche Sache, die, wenn wir die Realität aufmerksam beobachten, eigentlich ständig erleben, auch unter den besten Freunden und Kollegen: Der eine beurteilt die Situation eben so, der andere so. Der eine findet dieses Vorgehen richtig, der andere jenes. Das ist so lange völlig unproblematisch, wie beide akzeptieren, dass der andere eben eine andere Sichtweise hat und sie, genau wie er selbst, aus ehrlicher Überzeugung vertritt. Solange das beide so sehen können, liegt trotz ihres Dissens' keinerlei Problem vor. Dann läge in ihrer Meinungsverschiedenheit im Gegenteil sogar eine große Lernchance, die sie nicht hätten, wenn sie sich einig wären: Sie könnten sich nun neugierig fragen, wie es eigentlich kommt, dass ein anderer, ebenfalls halbwegs intelligenter Mensch die gleiche objektive Realität völlig anders beurteilt. Aus einem Vergleich der Unterschiede können sie zu Erkenntnissen kommen, die über ihr bisheriges Wissen hinausgehen. (Genau darauf zielen die gesamten Techniken und Methoden der rationalen Konsensbildung.)

  • Sachlicher Dissens
  • Abb.: Drei unterschiedliche Arten und Stufen von Konflikten

     

    Doch die wenigsten Menschen sind neugierig auf das, was sie von anderen lernen können; die meisten unterscheiden in ihrem tiefsten Inneren nur zwei Arten von Meinungen, auch wenn sie das nicht so offen sagen würden: Es gibt ihre eigene Meinung – und es gibt falsche Meinungen. Infolgedessen reagieren sie auf andere Sichtweisen nicht mit Interesse, sondern mit Bekehrungsversuchen: "Sie müssen die Sache so sehen wie ich; dann sehen Sie sie richtig!" Doch selbst das ist so lange (immer noch) kein Problem, wie die Beteiligten respektvoll miteinander umgehen und wechselseitig für Argumente zugänglich sind. Halten wir also fest: Eine Auseinandersetzung um die Sache ist so lange kein Konflikt, wie die Beziehungen zwischen den beteiligten Personen spannungsfrei sind. Das heißt im Umkehrschluss, dass sie genau dann zum (emotionalen) Konflikt wird, wenn persönliche Spannungen aufkommen. Dabei genügt es völlig, wenn nur einer der Beteiligten eine Verstimmung oder Verärgerung empfindet.

  • Missionierung und Verhärtung
  • Abb.: In zwei Spielzügen von der Meinungsverschiedenheit zum Machtkampf

     

    Sachliche Meinungsverschiedenheiten schlagen dann sehr schnell in einen persönlichen Konflikt um, wenn auch nur eine der beteiligten Parteien versteckte oder offene Entwertungen verwendet ("Irrlehre", "Schwachsinn") oder wenn sie kaum auf die Argumente der Gegenseite eingeht (was letztlich auch eine Form der Entwertung ist). Dabei sind Menschen mit labilem Selbstwertgefühl besonders eskalationsgefährdet, weil sie besonders leicht dazu neigen, kritische Äußerungen als entwertend zu empfinden bzw. das Ausmaß der in einer Aussage enthaltenen Entwertung mit dem "Vergrößerungsglas" zu betrachten. So entsteht genau jene "subjektiv empfundene Störung der Gleichwertigkeit", welche der Ausgangspunkt aller Konflikte ist. Sobald dieser Punkt erreicht ist, geht es in der Auseinandersetzung nicht mehr um die Sache, jedenfalls nicht mehr in erster Linie, sondern es geht um Dinge wie Selbstwertgefühl, Respektiert-Werden-Wollen, Selbstbehauptung, Bestrafung, Rechtbehalten ...

  • Wenn es "persönlich wird"
  • Ähnliches gilt auch für Interessenkonflikte: Es ist völlig normal und auch völlig legitim, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Interessen haben. Und es ist auch normal und legitim, dass sie zu erreichen versuchen, dass ihre Interessen berücksichtigt werden und zumindest nicht völlig unter die Räder kommen. Probleme entstehen daher, wenn eine Seite ihre Interessen ohne Rücksicht auf Verluste durchzusetzen versucht, aber auch dann, wenn die Eigeninteressen unter der Maske des Gesamtwohls verfochten werden: "Wir alle wollen doch das Beste für die Firma. Deshalb ..." Das tun manche Menschen von Hause aus gerne; besonders verbreitet ist es aber in Umfeldern, in denen Eigeninteressen tabuisiert sind, weil "sich alles andere dem Gesamtinteresse der Organisation unterzuordnen hat". (Solche Organisationen bezeichnet Philosoph Rupert Lay hart, aber treffend als "faschistoide Kulturen".)

  • Interessen-konflikte
  • Vom emotionalen Konflikt zum Machtkampf

     

    Vom emotionalen Konflikt ist es nur ein kleiner Schritt zur nächsten Eskalationsstufe. Je länger die fruchtlose Debatte dauert und je mehr an Entwertungen sie mit sich bringt, desto mehr Frustration und Verärgerung häuft sich auf beiden Seiten an, und desto größer ist die Tendenz, den uneinsichtigen Gegenspieler auf den richtigen Weg zu zwingen. Das ist die Eskalationsstufe, die in Goethes Erlkönig mit "Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!" beschrieben ist. Diese Gewalt ist in aller Regel keine physische, sondern eine soziale: Manche versuchen, ihren Gegenspieler mit Eloquenz und rhetorischen Tricks mattzusetzen, andere werden emotional. Tränen können dabei genauso wirksame Durchsetzungstechniken sein wie die Taktik, laut und ungehalten zu werden; wieder andere suchen sich durchzusetzen, indem sie Fakten schaffen, indem sie (als Vorgesetzte) die Debatte durch eine Anweisung beenden oder indem sie (als Mitarbeiter) einfach tun, was sie für richtig halten.

  • Erhöhung
    des Drucks
  • Mit dem Versuch, Zwang auszuüben, verändert sich der Konflikt qualitativ: Aus dem Versuch, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, wird nun ein Kampf um Sieg oder Niederlage. Um die Sache geht es jetzt endgültig nicht mehr, sondern nur noch um Durchsetzung – oder zumindest um das Abwenden einer Niederlage. Doch selbst wenn dieser Machtkampf mit einem eindeutigen Sieg endet, hat der Erfolg in der Regel einen hohen Preis: Zum einen bleibt eine Belastung der Beziehung zurück, zum anderen kann der Sieger sich der Kooperation des Besiegten niemals sicher sein. Infolgedessen muss er im weiteren Verlauf unter Umständen einen erheblichen Aufwand treiben, um tatsächlich zum Ziel zu kommen. Beispielsweise kann sich ein Vorgesetzter, der sich autoritär durchgesetzt hat, nicht darauf verlassen, dass sein Mitarbeiter seine Anweisung loyal umsetzt; er muss im Gegenteil damit rechnen, dass der Mitarbeiter nur gerade so viel tun wird, wie unvermeidlich ist, um sich keinen Ärger einzuhandeln. Unter Umständen muss der Chef sogar darauf gefasst sein, dass der Mitarbeiter die nächstbeste Chance nutzen wird, ihm bei der Umsetzung eins auszuwischen: "Ich habe es genau so gemacht, wie Sie gesagt haben, aber es hat leider nicht funktioniert ..." Das heißt, einseitige Durchsetzung hat den Preis des Widerstands und einer mühseligen Umsetzung – ganz abgesehen davon, dass nach solchen Erfahrungen offene Rechnungen übrig bleiben, die bei späteren Gelegenheiten lustvoll beglichen werden.

  • Kampf um Sieg oder Niederlage
  • Kaum erfreulicher ist das Ergebnis, wenn es nach langem Ringen keinen klaren Sieger und damit auch keinen eindeutigen Verlierer gibt, sondern eine Patt-Situation entsteht. Dann kann die Situation sich entweder völlig festfahren und zum sogannten "kalten Konflikt" gerinnen oder – eventuell auch bei einer späteren Gelegenheit – weiter eskalieren. Denn natürlich sind nach solch einer Auseinandersetzung beide Seiten zutiefst verstimmt, und sie haben dazu auch Grund, weil in der Regel beide mit Recht behaupten können, dass die andere Seite mit unsauberen Mitteln gekämpft hat. (Dass sie es selber auch getan haben, blenden die Kontrahenten entweder ganz aus oder sie deklarieren es zur Selbstverteidigung gegen die üblen Tricks der Gegenseite.) Angesichts der entstandenen Patt-Situation ist zwar keine Seite stark genug, sich durchsetzen, aber beide Seiten sind stark genug, um die Pläne der anderen zu blockieren. Was dabei herauskommt, ist häufig ein übler Kompromiss, bei dem man zwar selbst nicht bekommt, was man wollte, der andere seine Ziele aber zumindest auch nicht erreichen kann. Die Frustration über dieses unbefriedigende Ergebnis trägt dazu bei, den gegenseitigen Groll wach zu halten.

  • Patt-Situation und faule Kompromisse
  • Weitere Eskalation, Bruch und "kalte Konflikte"

     

    Wenn der Streit zu schnell und zu weit eskaliert, kann er auch damit enden, dass die Gegner im Bösen auseinander gehen. Zu solch einem "totalen Bruch" kann es spontan kommen, wenn sich in einem der Kontrahenten allzu viel Wut und Verärgerung angestaut hat; er kann aber auch ein Entschluss sein, der nachträglich und mit zeitlicher Verzögerung der inneren Bewertung einer Auseinandersetzung folgt. Besonders naheliegend ist diese Lösung natürlich, wenn eine Trennung für den, der sie erklärt, ohne tiefgreifende Nachteile möglich ist. Dann kann er relativ leicht sagen: "Mit diesem Menschen möchte ich nie wieder etwas zu tun haben!" Doch gibt es auch immer wieder Fälle, wo Menschen schwerwiegende Nachteile in Kauf nehmen, weil sie meinen, diesen Schritt ihrer Selbstachtung schuldig zu sein. Wenn Menschen zum Beispiel völlig überraschend "einen guten Job hinwerfen", oft zur völligen Fassungslosigkeit ihrer Umgebung und ohne eine neue Beschäftigung auch nur in Aussicht zu haben, steckt oft ein eskalierter Konflikt dahinter.

  • Beziehungs-abbruch
  • Wenn sich keine Seite in dem Machtkampf durchsetzen kann, die Parteien aber auch nicht getrennte Wege gehen wollen oder können, kann es sein, dass sich der "heiße Konflikt" in einen "kalten Konflikt" verwandelt. Das gilt vor allem dann, wenn das Zerwürfnis zu tief ist, um danach wieder zu einer Art von "Normalität" zurückzukehren, wenn die Beteiligten aber auch wissen oder ahnen, dass eine weitere Eskalation einen allzu hohen Preis für sie hätte: Dann gefrieren sie ihren Konflikt gewissermaßen ein. Das heißt, sie betrachten sich ab dann als Feinde, gehen sich nach Möglichkeit aus dem Weg und versuchen, sich im Übrigen gegenseitig das Leben schwer zu machen. Häufig ist in solchen Fällen ein Erliegen der direkten Kommunikation zu beobachten: Man spricht nicht mehr direkt miteinander, sondern nur noch über Dritte: "Dann richten Sie dem Herrn doch bitte aus ..." Anstelle des missionarischen Eifers, der heiße Konflikte auszeichnet, treten im kalten Konflikt Frustration, Desillusionierung und Zynismus. Intrigen und Fallen werden mit kühler Berechnung geplant und inszeniert; auf diesem Wege können auch kalte Konflikte sich auch wieder erhitzen und weiter eskalieren. Solche Grabenkriege können ganze Firmen lähmen, wenn sie nur hoch genug in der Hierarchie angesiedelt sind.

  • Feindschaft und "kalte Konflikte"
  • Es liegt auf der Hand, dass sowohl die Eskalation von Konflikten als auch deren Mutation zum kalten Konflikt bei den Beteiligten Ärger, Verletzungen, Wut, Enttäuschung, Verbitterung und andere schlechte Gefühle hinterlassen. Bei den Besiegten bleibt verständlicherweise ein Groll gegen den Sieger zurück; umgekehrt behalten die Sieger nicht selten ein Unbehagen, in dem sich ihr schlechtes Gewissen mit der Furcht vor möglichen Racheakten mischt. Auch die gegenseitige Blockade in der Patt-Situation und der Bruch von Beziehungen sind Erfahrungen, die den Schluss nahelegen, dass Konflikte etwas Gefährliches und Destruktives sind, das man nach Möglichkeit vermeiden sollte. So tragen gerade unsere schlechten Erfahrungen mit der Eskalation von Konflikten zur Förderung jener Konfliktscheu bei, die ihrerseits eine zentrale Ursache dafür ist, dass wir Konflikte oft in ungeeigneter Weise austragen – ein Teufelskreis.

  • Resultat: Konfliktscheu
  • Das Eskalationsmodell von Friedrich Glasl

     

    Das wohl bekannteste Eskalationsmodell, das die wachsende Zuspitzung von Konflikten zwischen Individuen und Gruppierungen sehr treffend beschreibt, stammt von dem österreichischen Konfliktforscher Friedrich Glasl. Mit Bedacht stellt Glasl die Eskalation in seinem neunstufigen Modell nicht als einen Aufstieg zu immer höheren Eskalationsstufen dar, sondern als einen Abstieg zu immer tieferen, primitiveren und unmenschlicheren Formen der Auseinandersetzung: Mit der Abwärtsbewegung will er "zum Ausdruck bringen, dass der Weg der Eskalation mit einer zwingenden Kraft in Regionen führt, die grosse, 'unmenschliche Energien' aufrufen, die sich jedoch auf die Dauer der menschlichen Steuerung und Beherrschung entziehen. Denn einerseits bewegen sich die Konfliktparteien auf einem abschüssigen Gelände, das steiler wird und wenig Halt bietet. Andererseits wecken sie durch ihr Verhalten Energie, die zu einer Verstärkung und Beschleunigung des Geschehens führt. Durch den gleichsam entstandenen 'Geschwindigkeits- und Bewegungsrausch' schwindet die Fähigkeit zur Steuerung." (Konfliktmanagement, S. 233)

  • Beschleunigte Abwärtsspirale
  • Die Unterscheidung verschiedener Eskalationsstufen macht eine wichtige und durchaus diskussionswürdige Annahme über die Entwicklung von Konflikten: Dass nämlich die Eskalation nicht gleitend und gewissermaßen "stufenlos" verläuft, sondern erstens in mehreren, klar voneinander abgrenzbaren Stufen, und dass diese Eskalationsstufen zweitens nicht von den Besonderheiten des Einzelfalls bestimmt sind, sondern eine überindividuelle Gültigkeit haben. Beides ist keine Selbstverständlichkeit, aber es scheint in der Tat so zu sein: Jede Eskalationsstufe wird laut Glasl durch eine spürbare Schwelle von der nächsthöheren (bzw. -tieferen) getrennt, die erstaunlicherweise von den meisten Menschen empfunden und als offensichtlich gültig anerkannt werden. Glasl spricht hier von "Wendepunkten in der Eskalation", die "einfach, hervorstechend und einzigartig sind" (S. 229). Wenn diese Schwellen überschritten werden, springt der Konflikt auf die nächsttiefere Stufe – wobei es spannenderweise so ist, dass ein versehentliches und ungewolltes Überschreiten unmittelbar danach noch korrigiert und "zurückgeholt" werden kann.

  • Wendepunkte
    der Eskalation
  • Glasls erste drei Eskalationsstufen entsprechen weitgehend dem oben beschriebenen Weg von der Meinungsverschiedenheit über den emotionalen Konflikt hin zum Machtkampf. Glasl bezeichnet die erste Stufe als "Verhärtung", welche die "Offenheit und gegenseitige Aufgeschlossenheit [der Parteien] vorübergehend beeinträchtigt" (S. 235). Zu diesem Zeitpunkt ist noch nichts Dramatisches passiert, und die meisten Beteiligten würden die Situation wohl noch gar nicht als Konflikt beschreiben. Noch sind sie sicher, die Situation mit ein bisschen Anstrengung "in den Griff bekommen" zu können. Allerdings setzen in dieser Phase auch schon die ersten negativen Emotionen ein, vor allem, wenn es mit immer den gleichen Personen zu Spannungen kommt ("O nein, jetzt kommt er schon wieder mit seinen ständigen Mäkeleien!"). Diese Friktionen werden als unnötiger Energie- und Zeitverlust, unter Umständen auch schon als persönliches Ärgernis empfunden. Die Folge: "Die Parteien verkehren ab jetzt nicht mehr unbefangen miteinander." (S. 238) Allerdings bemühen sie sich noch, die Spannungen nicht weiter anwachsen zu lassen; noch nehmen sie nicht reflektorisch die Gegenposition zu der anderen Seite ein.

  • Stufe 1: "Verhärtung"
  • Das ändert sich, wenn die Verhärtung zunimmt oder sich mit denselben Personen wiederholt. Dann kann sich das Klima deutlich verschärfen: "Die Parteien nehmen rigorosere Haltungen an und scheuen harte, verbale Konfrontationen nicht. Sie bedienen sich nun schärferer Mittel, um ihre Standpunkte durchzusetzen." (S. 239) Damit sind wir genau in dem Stadium, das wir oben als "emotionalen Konflikt" bezeichnet haben. Glasl spricht hier von "gemischten Motiven": Einerseits sehen die Parteien noch, dass ihre Ziele und Interessen am ehesten kooperativ verwirklicht werden können; andererseits erleben sie ihre Interessen und Ideen zunehmend als konkurrierend, als "Entweder-Oder-Dilemma". Die Auseinandersetzung wird schärfer, polemisch und verletzend: "In die Argumentationsweise mischt sich ein überheblich zurechtweisender, belehrender und direktiver Ton, der jedoch eher zu einer weiteren Entfremdung, zum Wachsen des Abstands und zur Erstarrung beiträgt als zu einem gegenseitigen Überzeugen." (S. 245) Glasl diagnostiziert hier einen "Wettkampf um Überlegenheit", wachsende "Ambivalenz der Beziehungen" und eine aufkommenden "pessimistischen Antizipation", das heißt negative Erwartungen im Bezug auf das weitere Verhalten der Gegenseite.

  • Stufe 2: "Debatte und Polemik"
  • Je stärker die Frustration bei den Beteiligten anwächst, desto größer wird ihre Tendenz, weitere Diskussionen für fruchtlos zu halten und die Sache stattdessen in die eigene Hand zu nehmen: "Taten statt Worte". Das kann der Versuch sein, einseitig vollendete Tatsachen zu schaffen, aber auch das Ausüben von Druck oder Zwang. Die andere Seite wird nun fast zwangsläufig feststellen, dass sie sich das nicht gefallen lassen kann. Deshalb markiert dieser Schritt den Übergang in den Machtkampf, und der ist kaum noch rückgängig zu machen. Glasl macht hier auf eine starke Beschleunigungstendenz und eine "Einbahndynamik der Eskalation" aufmerksam: "Durch das Schwinden der verbalen Kommunikation zwischen den Parteien sind die Parteien beim Interpretieren des Verhaltens der Gegenseite auf eigene Interpretationen angewiesen", was leicht zu einer "Fehlbewertung der Absichten des Gegners" führt, die von negativen Erwartungen geprägt ist (S. 252). Und er fasst zusammen: "Mit Stufe drei entsteht ein Bruch zwischen den Parteien, der mit den bisher vorherrschenden Formen der Kommunikation nicht mehr geheilt werden kann; in der Folge entwickeln sie ein Eigenleben, das sie mehr und mehr voneinander scheidet" (S. 256).

  • Stufe 3: "Taten statt Worte"
  • Zunehmend destruktive Tönung

     

    Nachdem der Bruch einmal eingetreten ist, streben die Parteien in der vierten Phase einerseits danach, sich und ihre Interessen durchzusetzen, andererseits danach, sich die Bestätigung von Unbeteiligten zu sichern. Deshalb nennt Glasl sie "Sorge um Images und Koalitionen". Die Auseinandersetzung wird nun zusehends härter und feindseliger, und die Konfliktparteien neigen zunehmend dazu, ihre eigene Position moralisch zu überhöhen ("Selbstglorifizierung") und die gegnerische Position zu verdammen, was Glasl mit den Stichworten "Übermensch" und "Untermensch" charakterisiert. Ab dieser Phase fällt es den Parteien immer schwerer, überhaupt noch positive Aspekte an ihren Gegnern zu erkennen: Ein wichtiges diagnostisches Element, an dem man das Überschreiten der dritten Stufe erkennen kann. Jetzt "suchen die Konfliktparteien bereits gezielt nach Lücken in den bestehenden Normen, um der anderen Partei Unannehmlichkeiten zuzufügen." (S. 261) Ausgesprochen eskalationsfördernd sind in dieser Phase "legale, aber unfreundliche Akte" und vor allem das sogenannte "dementierbare Strafverhalten" – das sind versteckte Fouls und Racheakte deren unfreundliche Absicht jederzeit und unwiderlegbar bestritten werden kann, wie etwa das "Vergessen" wichtiger Zusagen oder das "versehentliche" Durchkreuzen der Pläne der Gegenseite.

  • Stufe 4: Sorge um Images und Koalitionen
  • Trotzdem besteht laut Glasl gerade in dieser Phase ein "starkes Bewusstsein der Schwelle zur fünften Stufe. (...) Sie wissen intuitiv, dass sie nicht mutwillig einen 'Gesichtsverlust' des Gegners provozieren dürfen." (S. 264) Wird diese Schwelle aber überschritten, ist Stufe 5 "Gesichtsverlust" erreicht, in der die Kontrahenten darauf zielen, sich gegenseitig zu "entlarven" und "die wahren Absichten der anderen Seite zu demaskieren". Zweck der Übung ist, aller Welt zu beweisen, was für üble und hinterhältige Schufte die anderen sind, und so ihre gesamte Glaubwürdigkeit nachhaltig und rückwirkend zu zerstören. "Übermensch" und "Untermensch" werden in dieser Phase weiter überhöht zu "Engel" und "Teufel". Das fördert zugleich eine Totalisierung des Konflikts, denn Teufel können definitionsgemäß keine positiven Eigenschaften haben und Engel keine negativen. Damit bietet sich zugleich eine Ideologisierung des Konfliktes an: Damit geht es nicht mehr um irgendeinen Streit, sondern um einen Kampf der gerechten Sache gegen die ungerechte, des Guten gegen das Böse. Und für den ist natürlich beinahe jedes Mittel recht, einschließlich der Bloßstellung des Gegners und seiner Ausstoßung aus der Gemeinschaft.

  • Stufe 5: Gesichtsverlust
  • Die sechste Stufe "Drohstrategien" markiert den Übergang zwischen sozialer Aggression und blanker Gewalt. Zunächst dienen die ausgesprochenen Drohungen noch dem Zweck, den Gegner im gewünschten Sinne zu beeinflussen, doch faktisch kommt dabei eine fatale Nebenwirkung jeder Drohung zur Wirkung, nämlich die unvermeidlich in ihr enthaltene "Selbstbindung". Wenn der Gegner sich den ultimativen Forderungen nämlich nicht beugt, sitzt der Drohende selbst in der Patsche: Obwohl er die Drohung eigentlich gar nicht verwirklichen wollte, bleibt ihm im Interesse seiner Glaubwürdigkeit nun kaum eine andere Wahl. Umgekehrt bleibt der Gegenseite im Interesse ihrer Selbstachtung und ihres Ansehens kaum eine andere Wahl als den Drohungen zu trotzen. Glasl macht dabei auf die paradoxe Wirkung von Drohungen aufmerksam: Eigentlich ist ihr Zweck nicht, sie ausführen zu müssen, sondern den Gegner zum Einlenken zu veranlassen – faktisch aber müssen Drohungen in aller Regel ausgeführt werden und stellen damit die Weichen in Richtung weiterer Eskalation.

  • Stufe 6: Drohstrategien
  • Spätestens damit sind die Kontrahenten den vereisten Steilhang der Eskalation eingefahren, und ein "totaler Krieg" zwischen ihnen wird immer wahrscheinlicher: "Die Parteien können sich eine Lösung der Gegensätze bei gleichzeitiger Existenz des Feindes im Grunde nicht vorstellen. Das Problem bliebe nach ihrem Empfinden dabei ungelöst. Eine gemeinsame Anstrengung mit dem Gegner, um in irgendeiner Form den Konflikt kooperierend zu lösen, widerstrebt den Parteien zutiefst." (S. 292) Auf Stufe 7 geht es noch um "begrenzte Vernichtungsschläge", die den Gegner kampfunfähig machen sollen. "Die (...) Zerstörung von Gütern des Gegners (...) bietet den Konfliktparteien jetzt eine Ersatzbefriedigung. (...) Die Schadenfreude wertet den Verlust des Gegners zum eigenen 'Gewinn' um." (S. 294 f.) Auf Stufe 8 ("Zersplitterung") zielen die Angriffe auf das Zentralnervensystem des Gegners. In Anlehnung an Erich Fromm spricht Glasl hier von einer "nekrophilen Lust an Tötung und Vernichtung" (S. 299), die auch sprachlich in Begriffen wie "Ausradieren" und "Niedermachen" zum Ausdruck kommt. Mit Stufe 9 geht es dann "Gemeinsam in den Abgrund": Die Vernichtung des Gegners ist wichtiger geworden als die eigene Existenz.

  • Stufen 7 – 9: Totaler Krieg
  • Kein zwangsläufiger und unaufhaltsamer Automatismus!

     

    Die neun Eskalationsstufen nach Friedrich Glasl lassen sich auch als drei Triaden sehen. In der ersten Triade ging es noch um "Win-Win-Spiele": Beide Parteien haben noch die Hoffnung, irgendwie zu einer Lösung zu finden, mit der alle Beteiligten leben können. In der zweiten Triade (Stufen 4 – 6) geht es um "Win-Lose-Spiele", also darum, den Gegner mit wachsendem Druck und immer massiveren Drohungen auf den eigenen Kurs zu zwingen. In der dritten Triade ("Lose – Lose") schließlich geht es nicht mehr ums Gewinnen, sondern nur noch darum, dem Feind zu schaden. Die Triadeneinteilung erlaubt auch eine grobe Prognose der Konfliktentwicklung und der Lösungschancen: Solange sich ein Konflikt noch in der ersten Triade befindet, haben die Parteien noch die Chance, ihn mithilfe einer Konfliktmoderation zu bewältigen. Ist er in der zweiten Triade angelangt, gelingt dies allenfalls noch mit intensiver externer Unterstützung (Mediation bzw. "soziotherapeutische Prozessbegleitung"). In der dritten Triade hat auch eine externe Unterstützung kaum noch eine Chance, solange sie macht-los ist: Hier kann der Konflikt nur noch durch einen Schiedsspruch bzw. einen Machteingriff beendet werden. Das zeigt, wie genau seine eingangs zitierte Aussage Glasls den Punkt trifft: Am Anfang hat man noch einen Konflikt – später hat einen der Konflikt.

  • Drei Triaden
  • Am Ende seines Eskalationsmodells stellt Glasl eine entscheidende Frage: "Wie zwanghaft wirken die beschriebenen Mechanismen der Eskalation?" (S. 305) Ist das eine Dynamik, gegenüber der die Betroffenen hilf- und machtlos sind und die sie unwiderstehlich in den Strudel reißt, oder können wir eine Eskalation aufhalten oder gar rückgängig machen, wenn wir nur beherrscht, geschickt und entschlossen handeln?

  • Schicksal oder Entscheidung?
  • Aus individualpsychologischer Sicht ist die Antwort klar, wenn auch unbequem: Wenn es stimmt, dass wir Menschen selbständig und eigenverantwortlich handelnde Wesen sind, die auf der Basis ihrer Bewertung der Situation ständig zielgerichtete Entscheidungen treffen, dann muss das auch für Konflikte und deren Eskalation gelten. Dann ist auch das Überschreiten jeder Eskalationsschwelle eine (mehr oder weniger bewusste) Entscheidung, die wir prinzipiell auch anders treffen könnten. Demnach wäre es nicht mehr als eine Ausrede, wenn wir uns und anderen vormachten, dass uns Emotionen wie Wut und Zorn "übermannt" hätten, sodass wir gar nicht mehr anders hätten handeln können. Denn natürlich sind wir selbst die "Produzenten" unserer Emotionen: Wir sind ja nicht besessen von irgendwelchen geheimnisvollen finsteren Mächte, die uns in die Eskalation zwingen. Allerdings muss man dabei sehen, dass es uns die innere Dynamik der Eskalation von Stufe zu Stufe schwerer macht, uns gegen die Überschreitung der nächsten Schwelle zu entscheiden. Sie verändert unsere Prioritäten, oder genauer: Wir selbst ändern aufgrund unserer Bewertung der Ereignisse unsere Prioritäten, und irgendwann wollen wir einfach nicht mehr vernünftig und deeskalierend handeln.

  • Gewollte Entscheidungen
  • Friedrich Glasl kommt aus einer völlig anderen Warte zu einem ähnlichen Ergebnis: "Aus unserem christlichen Menschen- und Gesellschaftsbild heraus, das sich auf die Anthroposophie von R. Steiner stützt, können wir dies folgendermaßen zusammenfassen: Der Mensch ist in sich und in seiner Umgebung mit Gegenkräften konfrontiert, die zu einer Schwächung und Trübung seines Bewusstseins führen, wenn der Mensch nicht zu seinen eigenen ethischen Impulsen steht und authentisch zu handeln versucht. Gerade in der Auseinandersetzung mit diesen Widersachern kann er sich Freiheit des Willens erwirken. Dies ist die Herausforderung an den Menschen schlechthin: sich selbst und die gesellschaftlichen Zusammenhänge so zu entwickeln, dass Menschen nicht aus Zwängen, sondern aus Verantwortung heraus entscheiden und handeln." (S. 306 f.)

  • Herausforderung an die Freiheit des Willens
  • Literatur:

    Glasl, Friedrich (2004): Konfliktmanagement – Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater; Paul Haupt (Bern)

    Jiranek, Heinz; Edmüller, Andreas (2004): Konfliktmanagement – Als Führungskraft Konflikten vorbeugen, sie erkennen und lösen; Haufe (Freiburg)

     


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