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Wahrnehmung: Das unsichere Fundament unseres Handelns |
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Winfried Berner, Die Umsetzungsberatung |
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Wahrnehmung schafft Realität. Denn unser Handeln orientiert
sich nicht daran, wie die Welt ist, sondern daran, wie wir sie wahrnehmen.
Je präziser
unsere Wahrnehmung, desto besser die Basis für ein erfolgreiches Handeln. Eine unvollständige oder verzerrte Wahrnehmung
führt fast zwangsläufig zu ungeeignetem Handeln – gerade im Change
Management, weil man in diesen komplexen Prozessen in der Regel
zu wenig direktes Feedback erhält, um Fehleinschätzungen rasch erkennen
und korrigieren zu können. Mit anderen Worten, die Qualität unserer
Wahrnehmung hat entscheidenden Einfluss auf die Qualität unseres
Handelns. |
Wahrnehmung schafft
Realität |
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Die Hoffnung, dass wir die Realität objektiv wahrnehmen könnten,
hat der griechische Philosoph Sokrates (470 – 399 vor unserer Zeitrechnung) schon
vor mehr als 2400 Jahren zunichte gemacht. Er stellte fest, dass
die Wahrheit dem
menschlichen Erkenntnisvermögen prinzipiell unzugänglich ist; allenfalls
bei unmittelbar beobachtbaren Sachverhalten ("Die Blume ist rot")
könnten wir einigermaßen zuverlässig feststellen, ob eine Aussage wahr oder
falsch ist. |
Keine objektive Erkenntnis |
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Der Konstruktivismus bietet keine Hilfe |
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Noch ein Stück radikaler ist der moderne Konstruktivismus. Er betrachtet
alles, was wir wahrnehmen und für Realität halten, als bloße Konstrukte
unseres Wahrnehmungsapparats. Dass wir einen Gegenstand für rot
halten, liegt aus radikal-konstruktivistischer Sicht nicht etwa
daran, dass er tatsächlich rot ist, sondern daran, dass er (a) bestimmte
Lichtfrequenzen reflektiert, die (b) bei uns einen Wahrnehmungseindruck
auslösen, zu dem (c) die Konvention besteht, ihn als "rot" zu bezeichnen.
Nach Auffassung der Konstruktivisten sagt dies jedoch nichts (!)
über den wahrgenommenen Gegenstand aus, sondern spiegelt lediglich
die Charakteristika unseres Wahrnehmungsapparates und unsere sozialen Konventionen wider. Es könne
gut sein, argumentieren sie, dass andere Lebewesen den gleichen
Gegenstand völlig anders wahrnehmen. Streng genommen könnten wir
noch nicht einmal sicher sein, dass andere Menschen angesichts einer
roten Blume oder Ampel die gleiche Farbwahrnehmung hätten wie wir
– wir wissen lediglich, dass sie dafür das Wort "rot" verwenden. (Falls das nicht auch bloß eine Konstruktion unseres Wahrnehmungsapparats ist.) |
Der radikale Konstruktivismus
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Das ist nun in der Tat radikal gedacht, und es ist überdies kaum zu widerlegen. Doch für die Praxis ist es nicht sonderlich hilfreich – im Gegenteil: Wenn man diesen Gedanken ernst nimmt, mündet er absolute Rat- und Hilflosigkeit. Denn wenn alles, was wir "für wahr nehmen", in Wirklichkeit nur ein Artefakt, also ein Kunstprodukt unseres Wahrnehmungsapparats ist, dann bricht unsere gesamte Orientierung zusammen, und es ist nicht mehr möglich, sinnvoll und zielgerichtet zu handeln. In dieser Not ist es ein – schwacher – Trost, dass sich selbst radikale Konstruktivisten im Alltag sehr viel pragmatischer verhalten als es ihre Lehre suggeriert: Sie kaufen Autos, obwohl sie sich über deren Existenz und Erscheinungsform in keiner Weise sicher sein können, überprüfen vorher ihren Kontostand, obwohl der ohne Zweifel nur ein Kunstprodukt sozialer Konventionen darstellt, ja, sie halten sogar an roten Ampeln und vermeiden es, vor heranrasenden Lastwagen die Straße zu überqueren. Insofern passt der hübsche Spott, dass trotz aller Skepsis gegenüber unserer Wahrnehmung eine einzige Wespe genüge, um einen ganzen Saal voll radikaler Konstruktivisten in helle Aufregung zu versetzen. |
... und der praktische
Verrat an ihm |
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Das Infragestellen der unmittelbaren Wahrnehmung ist zwar ein nettes Gedankenspiel, aber praktisch eher unnütz. Es problematisiert Dinge, die in Wirklichkeit unproblematisch sind, und lenkt damit von dem eigentlichen Problem unserer Wahrnehmung ab. Denn die Frage, welche Farbe eine Blume hat oder ob eine Wespe im Raum ist, führt in der Realität äußerst selten zu Problemen. Wirkliche Schwierigkeiten macht das sokratische Problem, dort zu verlässlichen (bzw. "wahren") Aussagen zu kommen, wo sich die Dinge nicht unmittelbar beobachten lassen. Denn in diese Kategorie fallen unglücklicherweise fast alle praktisch bedeutsamen Aussagen: sowohl Bewertungen ("Ist es gut oder schlecht, in dieser Situation offen zu kommunizieren?") als auch Aussagen über Zusammenhänge (wie zum Beispiel zwischen Lob
und Tadel und der Leistung) und daraus abgeleitete Prognosen, weiterhin auch alle Aussagen über Vergangenheit (d.h. Erinnerungen) und Zukunft (Prognosen). Hier bewegen wir uns, so sicher wir uns subjektiv sein mögen, tatsächlich immer auf schwankendem Grund. |
Nicht direkt beobachtbare
Dinge |
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Der Konstruktivismus vermittelt den Eindruck, dass sämtliche möglichen Wahrnehmungen und Deutungen einer Realität prinzipiell gleichberechtigt nebeneinander stünden, weil sie ja alle bloß Erzeugnisse unseres Wahrnehmungsapparats sind. Was die "Berechtigung" betrifft, mag das so sein, aber daraus folgt keineswegs, dass jegliche Wahrnehmung und Deutung der Realität auch für die Praxis gleich geeignet ist. Denn das Kriterium der Praxis ist nicht die Richtigkeit (der "Wahrheitsgehalt") einer Erkenntnis, sondern ihre Brauchbarkeit, das heißt ihre Nützlichkeit als Orientierung für das eigene Handeln. So mag es erkenntnistheoretisch völlig in Ordnung sein, das oberste Licht einer Verkehrsampel als "grün" zu bezeichnen – wer angesichts dieser "grünen" Ampel jedoch losfährt, könnte Ärger bekommen. Denn unsere Wahrnehmung ist keine zweckfreie Veranstaltung; sie ist in erster Linie dazu da, unserem Handeln eine verlässliche Orientierung zu liefern. Deshalb bemisst sich die Qualität unserer Wahrnehmung daran, wie gut sie sich in der Praxis bewährt, das heißt daran, wie verlässlich sie uns ein zielgerichtetes und erfolgreiches Handeln ermöglicht. |
Kriterium praktische Bewährung
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Der komplexe Weg von der Wahrnehmung zum Handeln |
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Wie wichtig die Güte der Wahrnehmung ist, wird deutlich, wenn man
sich den Weg von der Wahrnehmung zum Handeln einmal "in Zeitlupe"
anschaut. Wie die Grafik zeigt, ist das ein vielstufiger, weitgehend
unbewusster Ablauf, der ständig und immer wieder in Sekundenbruchteilen durchlaufen wird: |
Von der Wahrnehmung
zum Handeln |
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Abb.: Unsere Wahrnehmung bestimmt unser Handeln |
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Jede noch so banale Realsituation überschwemmt uns mit einer
unglaublichen Flut an optischen, akustischen und sonstigen Reizen,
die wir unmöglich vollständig aufnehmen, verarbeiten und speichern
können. In einer unglaublichen Leistung konstruiert unser Gehirn
daraus im Prozess der Wahrnehmung einfache, praktisch verwertbare
Erkenntnisse. So erkennen wir trotz unterschiedlicher Lichtverhältnisse,
Geräusche, Temperatur, Perspektive, trotz anderer parkender und
fahrender Autos und anderer Menschen unzweifelhaft eine uns vertraute
Straße. Und nicht nur das, sondern wir entdecken in dem ganzen Durcheinander
auch auf der anderen Straßenseite auch noch einen Bekannten, den wir lange
nicht gesehen haben. Schlagartig entsteht in unserem Kopf etwas,
was die frühe Gestaltpsychologie ein "Figur-Grund-Phänomen" genannt
hat: Der Bekannte wird Vordergrund, alles andere – Straße, Autos,
Menschen – wird Hintergrund. |
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Schon hier ist deutlich zu erkennen, dass unsere Wahrnehmung keine passive Abbildung
der Realität ist, sondern eine aktive Auswahlleistung, nämlich ein gemäß unseren derzeitigen Zielen und Interessen gefiltertes Exzerpt aus der
vorhandenen Datenflut. Gut möglich, dass ein anderer Mensch die
gleichen Reize völlig anders gefiltert hätte – vielleicht wäre seine
"Figur" vor dem gegebenen Hintergrund eine attraktive Frau, ein Luxuswagen
oder ein
an der Leine zerrender
Schäferhund geworden, vielleicht auch die Auslage in einem
Schaufenster, die Speisekarte eines Restaurants oder die dunklen
Gewitterwolken am Himmel. Mit anderen Worten, unsere Wahrnehmung bildet die Realität
nicht passiv ab wie eine Kamera, sondern erzeugt aus dem Rohmaterial, das die
Realität uns zu Verfügung, aktiv unsere eigene Welt. |
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Die Bewertung des Wahrgenommenen ist stark von unserer
Persönlichkeit und unserer momentanen Verfassung geprägt. Klar,
dass ein Mensch auf den Bekannten auf der anderen Straßenseite völlig unterschiedlich
reagiert, je nachdem, ob er ein bisschen Zeit hat oder unter massivem
Zeitdruck steht. Ebenso wichtig ist aber, ob er ihn selbstsicher
wahrnimmt ("Wie schön!"), defensiv ("Und wenn er/sie mich gar nicht
mehr erkennt?!") oder skeptisch ("Vielleicht verliere ich nur meine
Zeit!"). Aus unterschiedlichen Bewertungen resultieren zwangsläufig
unterschiedliche Gefühle: Mal Freude, mal Angst vor Ablehnung,
mal Vorbehalte. Das ist eine extrem wichtige Feststellung, die große praktische Tragweite hat: Unsere Emotionen sind keine direkte Folge unserer Wahrnehmung,
sondern die Folge der Gedanken (= Bewertungen), die uns hierzu
durch den Kopf schießen. Das heißt in der Konsequenz: Wenn wir die gleiche Situation anders bewerten würden, entwickeln wir zwangsläufig auch andere Gefühle. Oder, noch anders: Wenn wir eine Situation falsch bewerten, entwickeln wir zwangsläufig auch "falsche" Gefühle, das heißt, Gefühle, die uns in die falsche Richtung lenken. |
Von der Bewertung
zum Gefühl |
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Denn die Kette geht noch weiter: Unterschiedliche Gefühle lösen auch ganz unterschiedliche
"innere Reaktionen" und Handlungsimpulse aus. Im ersten
Fall, wo sich unser Spaziergänger über das Wiedersehen mit dem Bekannten freut, wird seine spontane Tendenz zu einer sofortiger Kontaktaufnahme
gehen, im zweiten, wo er unsicher ist, eher zu einem abwartenden Verhalten, das primär das
Risiko eines peinlichen Erlebnisses vermeiden will; im dritten wäre sie möglicherweise unentschieden und halbherzig.
Mit dem jeweiligen Handlungsmotiv im Bauch schauen wir nun in unseren
"Werkzeugkasten", also in unser Repertoire einschlägiger Handlungsoptionen.
Daraus wählen wir die Option aus, die uns für die gegebene Situation
und unsere unausgesprochenen Ziele am geeignetsten erscheint. Für
die Auswahl sind einerseits die vermuteten Erfolgsaussichten
maßgeblich, andererseits spielen Normen, Werte (wie z.B. Fairness)
und auch die persönliche Risikobereitschaft eine wichtige Rolle.
Sobald wir unsere Entscheidung getroffen haben, handeln wir – wobei
auch Nichtstun (wie zum Beispiel, wegzuschauen
oder so zu tun, als hätten wir den anderen nicht bemerkt) eine Form des Handelns ist. All dies läuft in Sekundenbruchteilen ab, und zwar in aller Regel, ohne dass uns dies bewusst ist; wir können es aber rekonstruieren, wenn wir zurückverfolgen, warum wir eigentlich so reagiert haben wie wir reagiert haben. |
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Das Handeln wiederum, gleich wie mutig oder halbherzig es
war, schafft eine neue Realität. Durch die eigene Aktion
hat sich die Situation verändert – vielleicht nur geringfügig, vielleicht
grundlegend. Diese neue Realität wird zum Ausgangspunkt sowohl
für die Wahrnehmung, die Bewertungen und Gefühle sowie die Handlungen unseres Gegenübers als
auch für den eigenen. Denn unsere Wahrnehmung geht ja
weiter – wir sehen, wie das Gegenüber auf unseren "Spielzug" reagiert,
und seine Reaktion entspricht entweder dem, was wir angestrebt oder erwartet haben, oder sie ist anders als erwünscht; dann versuchen wir, sie durch einen korrigierenden Spielzug im gewünschten
Sinne zu verändern. Dieser
Prozess von der Wahrnehmung zum Handeln findet in jeder Situation
bei allen beteiligten Personen in rasendem Tempo immer und immer
wieder statt. |
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Die Qualität der Wahrnehmung ist entscheidend |
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Was aber hat bei alledem den größten Einfluss auf das Resultat, also auf unser Handeln? – Je genauer man hinsieht, desto deutlicher wird, dass der Schlüssel zum Handeln ganz am Anfang liegt, nämlich in den ineinander verwobenen Teilprozessen von Wahrnehmung und Bewertung. Alles, was danach kommt, läuft mit beinahe zwangsläufiger Konsequenz und Folgerichtigkeit ab: Die Bewertung löst zwangsläufig bestimmte Gefühle aus, die Gefühle zwangsläufig bestimmte Handlungsimpulse, die uns wiederum zwangsläufig zur Prüfung der einschlägigen Handlungsoptionen (und nur dieser!) veranlassen. Aus diesen Optionen wird vorhersagbar diejenige ausgewählt, die der handelnden Person vor dem Hintergrund ihrer Wahrnehmung und Bewertung der Situation am geeignetsten erscheint, um ihre Ziele zu erreichen. Und dann wird eben – durch Tun oder Unterlassen – gehandelt. Woraus zwangsläufig eine neue Situation entsteht. |
Schlüsselrolle der
Wahrnehmung |
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Diese Feststellung hat große Tragweite. Sie bedeutet nichts
anderes als:
Die Qualität unserer Wahrnehmung ist der Schlüssel zur Qualität
unseres Handelns.
Was zugleich auch heißt:
Eine verzerrte Wahrnehmung löst unweigerlich auch ein ungeeignetes Handeln aus.
Wenn wir eine Situation falsch, verzerrt, einseitig wahrnehmen,
wenn wir einen wesentlichen Aspekt übersehen oder nicht "für wahr
haben" wollen, wenn wir unseren Vorurteilen erlauben, unseren Blick
auf die Realität zu verstellen, dann geht zwangsläufig auch unser
Handeln an der Situation vorbei. Wenn wir beispielsweise jemanden,
der aus Angst vor den anstehenden Veränderungen in den Widerstand gegangen ist, fälschlich als verstockt oder "politisch motiviert"
ansehen, dann können wir bei der Wahl unseres Vorgehens noch
so sorgfältig und "methodenkompetent" sein, dennoch werden wir immer nur nach Handlungsoptionen suchen, die darauf zielen, einen verstockten oder politisch motivierten Gegner zum Einlenken zu zwingen. Diese Maßnahmen aber werden die vorhandenen Ängste nicht ausräumen, sondern verstärken, deshalb wird unser Handeln die Situation
eher verschlechtern als verbessern. Die abwehrende Reaktion des Adressaten wird uns möglicherweise noch in unserer Einschätzung verstärken, dass er entweder verstockt oder "politisch" ist, und uns zu noch mehr Anstrengungen in derselben Richtung veranlassen. Im Grunde ist das wie beim Hemdenknöpfen:
Hat man einmal falsch angefangen, kann man noch so
folgerichtig und konsequent weitermachen, es kommt nichts Brauchbares mehr dabei
heraus. |
Qualität der Wahrnehmung
entscheidend |
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Im unmittelbaren Dialog haben wir zumindest noch eine Chance, entstandene Fehlinterpretationen und Missverständnisse zu erkennen und korrigieren. Beispielsweise sehen wir aus der unmittelbaren Reaktion unseres Gesprächspartners, dass er eine Bemerkung in den falschen Hals bekommen hat. Dann können sofort etwas tun, um den falschen Eindruck zurechtzurücken. Im Change Management hingegen (und generell beim Führen größerer Unternehmen oder Organisationen) ist die Gefahr von Missdeutungen und Fehleinschätzungen deutlich größer, weil man mit den meisten Beteiligten nicht mehr im direkten Dialog steht, sondern auf punktuelle Eindrücke, Berichte
Dritter und intuitive Einschätzungen angewiesen ist. Da man hier meistens kein direktes Feedback bekommt,
steigt das Risiko, dass man die Situation unwidersprochen fehlerhaft
einschätzt und infolgedessen auch falsch handelt. |
Gefahren für das
Change Management |
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Für Unternehmensführung und Change Management ist die Qualität
der Wahrnehmung daher viel zu wichtig, um sie sich selbst zu überlassen
und auf bloße "Intuition" zu vertrauen. Um
die eigene Wahrnehmungsfähigkeit und -bereitschaft zu verbessern,
ist dreierlei erforderlich: Erstens muss man wissen, wie der Filterungsprozess
bei der Wahrnehmung funktioniert und welche typischen Risiken dabei
bestehen. Zweitens sollte man die eigenen typischen "Filterungsmuster"
kennen und verstehen lernen. Denn wenn man weiß, nach welchen Regeln man filtert, kann man diesen Verzerrungen
ein Stück weit entgegenwirken. Wer etwa weiß, dass er dazu neigt,
Dinge zu dramatisieren, kann sich ein bisschen bremsen – wer sich
als "Harmonisierer" erkannt hat, kann kritischen Signalen bewusst
mehr Aufmerksamkeit widmen. Drittens ist es notwendig, seine eigenen
Ängste, Verletzlichkeiten und ichhaften
Tendenzen zu kennen und abzubauen. Denn offen für andere Menschen und soziale Prozesse kann man nur sein, wenn man nicht ständig
mit sich selbst und den eigenen Wünschen und Ängsten beschäftigt
ist und das Geschehen ständig defensiv filtert. Die Empfehlung der modernen
Psychologie kehrt letztlich also zurück zu den alten Griechen: "Gnothi
seauthon – Erkenne dich selbst!" |
Wahrnehmungs-fähigkeit verbessern
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Zahlreiche Fallstudien zu den unterschiedlichsten Typen von Change-Projekten (und damit 20 ausgezeichnete Möglichkeiten, die Entwicklung von Change Architekturen zu trainieren) finden Sie in meinem Buch "Change! – 20 Fallstudien zu Sanierung, Turnaround, Prozessoptimierung, Reorganisation und Kulturveränderung" (Schäffer-Poeschel, 2. erweiterte Auflage 2015). Es vermittelt Ihnen einen breiten Überblick über die unterschiedlichsten Typen von Veränderungsprozessen und zeigt Ihnen, worauf es jeweils ankommt, um Ihre Change-Vorhaben zum Erfolg zu führen.
Mehr über das Buch "Change! – 20 Fallstudien"
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Die Gesetzmäßigkeiten der Filterung oder: Selektive Wahrnehmung |
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Wie sehr sich die Wahrnehmung der Realität mit den Betrachtungsperspektive
verändert, hat der Begründer der modernen Sozialpsychologie Kurt
Lewin (1890 – 1947) in seinem frühen Essay "Kriegslandschaft" (1917)
beschrieben. Darin berichtet er, wie sich seine Wahrnehmung als Teilnehmer des Ersten Weltkriegs mit der Annäherung an
die Front veränderte: "Die Friedenslandschaft ...
schien sich nach allen Seiten gleichmäßig zu erstrecken"; sie war "rund, ohne vorn und hinten". Dagegen erlebte er die Kriegslandschaft
"gerichtet": "Nach der Frontseite scheint die Gegend irgendwo aufzuhören;
die Landschaft ist begrenzt". Zugleich ändern Felder, Wälder und
Dörfer, sobald sie zur "Kriegslandschaft" werden, ihren Charakter:
"Ihre wesentlichen Eigenschaften sind die Möglichkeit oder Unmöglichkeit,
sie vom Feinde aus einzusehen, der Schutz, den sie gegen Infanterie-
und Artilleriewirkung geben, ihre Eigenschaften als Schussfeld ..."
Mit anderen Worten, die gleiche objektive Realität – Hügel, Dörfer, Wälder,
Felder – wird je nach Kontext und Perspektive völlig unterschiedlich
wahrgenommen. |
Unterschiedliche Be-Deutungen der gleichen Realität
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Ähnliches erleben wir in unzähligen Alltagssituationen: Wer mit beinahe
leerem Tank unterwegs ist, hat keinen Blick mehr für reizvolle Landschaften, für historische
Gebäude, nicht einmal mehr für attraktive
Menschen am Straßenrand – er sucht nur noch, und zwar mit wachsender
Anspannung, nach einer Tankstelle. Je länger die Warnlampe
leuchtet, desto größer wird der Druck. In solchen Situationen verengt
sich die Wahrnehmung; man bekommt zunehmend den Eindruck, dass akkurat
jetzt sämtliche Tankstellen vom Erdboden verschwunden sind: "Es ist wie
verhext: Ausgerechnet wenn man eine sucht, ist keine da!" Im Grunde
ist das bereits eine milde Form von Paranoia, also eine leicht ins Wahnhafte
verschobene Verzerrung der Realitätswahrnehmung. |
Durch Interessen
und Bedürfnisse gefiltert |
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Trotzdem ist selektive Wahrnehmung nichts Schlechtes – im Gegenteil:
Es ist ausgesprochen nützlich, sich in einer Situation, in der man dringend
tanken muss, auf die Tankstellensuche zu konzentrieren und sich
nicht von den Attraktionen am Wegesrand ablenken zu lassen. Auch
für Soldaten aller Zeiten dürfte es ein Selektionsvorteil gewesen
sein, die Landschaft im Sinne von Kurt Lewin als "gerichtet" anzusehen,
sich also klar bewusst zu sein, wo die Frontlinie verläuft und aus
welcher Richtung Speere, Pfeile, Kanonenkugeln oder MG-Feuer
kommen. Die Fähigkeit, selektiv wahrzunehmen, kann
ein großer Vorteil sein – jedenfalls so lange, wie sie auf
ein sachlich sinnvolles Ziel ausgerichtet ist. |
Der Nutzen selektiver
Wahrnehmung |
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Selektive Wahrnehmung orientiert sich immer an dem (bewussten
oder unbewussten) Ziel, das für die handelnde Person
in der jeweiligen Situation im Vordergrund steht. Für den Soldaten ist
das zweckmäßigerweise das Überleben, für den beinahe "trockenen"
Autofahrer das Tanken. Doch können hier wie dort Ereignisse eintreten,
die diese ursprünglichen Ziele entweder verändern oder überlagern
– und damit auch die Filterungsrichtung der Wahrnehmung.
Für den Soldaten des Ersten Weltkriegs könnte dies der Befehl gewesen sein, eine feindliche Stellung zu stürmen, oder auch die Information, dass der Feind seine Stellung geräumt hat. Für den Autofahrer kann es zum Beispiel ein wichtiger Anruf auf dem Handy sein oder eine kritische Verkehrssituation, die ihn zwingen, seine Aufmerksamkeit wenigstens vorübergehend auf ein anderes Ziel auszurichten. |
Ausrichtung am wichtigsten
aktuellen Ziel |
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Tendenziöse Wahrnehmung |
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Kontraproduktiv wird selektive Wahrnehmung dann, wenn sie sich
nicht an sachlichen Zielen bzw. der jeweils aktuellen Aufgabe
orientiert, sondern an sachfremden Aspekten. Das wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn unser
Autofahrer bemerkte, dass ihn ein anderer Wagen überholen will, dies
nicht ertragen könnte und sich deshalb trotz beinahe leeren Tanks auf
ein Wettrennen einließe. Oder wenn er an einer Tankstelle vorbei
fährt, weil er empört ist, dass dort die Preise so hoch sind. Kontraproduktiv ist selektive Wahrnehmung auch dann,
wenn ein Top-Manager oder ein Change Manager in einer verzwickten Situation all die Informationen
ausblendet, die zusätzliche Irritationen bedeuten würden, weil sie
nicht seinen Erwartungen oder Vorurteilen entsprechen. |
Orientierung an sachfremden
Aspekten |
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Alfred Adler (1870 – 1937), der Begründer der Individualpsychologie,
hat hierfür den Begriff der "tendenziösen Wahrnehmung" (ursprünglich:
der "tendenziöse Apperzeption") geprägt. Er sah in ihr den Versuch,
sich selbst und die Welt so sehen, wie es dem eigenen Weltbild sowie
den eigenen Ängsten und Bedürfnissen entspricht.
(Im Grunde lieferte er damit das psychologische Gegenstück zu der eingangs erwähnten "Aporie des Sokrates": Nach Adler sind wir nicht dazu in der Lage, die Welt ungefiltert zu erkennen, das heißt, unabhängig von unserer eigenen Sichtweise, unserer "privaten Logik".) Als klassische Beispiele für tendenziöse Wahrnehmung beschrieb Adler die Abwertung des anderen Geschlechts, aber auch die (unbewusste) Veränderung von Erinnerungen, bei der manche (irritierende) Dinge weggelassen und andere (wünschenswerte) hinzugefügt werden. Tendenziöse Wahrnehmung steht letztlich auch hinter Minderwertigkeitsgefühlen, das heißt hinter der ängstlichen Annahme, den Anforderungen des Lebens nicht gewachsen zu sein (was häufig in die Verweigerung bestimmter Lebensaufgaben mündet). |
"Tendenziöse Apperzeption" |
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Aber wenn man die Wahrheit
nicht erkennen kann, wie kann man dann wissen, was tendenziöse und
was "richtige" Wahrnehmung ist? Eine ebenso einfache wie kluge Heuristik
hat hier der Individualpsychologe Fritz Künkel (1889 – 1956) eingeführt,
nämlich die Unterscheidung zwischen "sachbezogenem" und "ichhaftem"
Handeln: Betrachten wir eine gegebene Situation primär aus der Perspektive, was wir tun können, um eine positive Weiterentwicklung zu fördern ("sachbezogen"), oder schauen wir in erster Linie "ichhaft" darauf, wie wir selbst dastehen und wie wir uns möglichst eindrucksvoll darstellen können ("Wie war ich, Doris?")? Tatsächlich produzieren Menschen um so mehr Reibungsverluste, je mehr sie ihre Wahrnehmung (und damit auch ihr Handeln) nicht an der "Sache", also an der jeweils gestellten Aufgabe ausrichten, sondern an der Geltung, Wirkung und Absicherung der eigenen Person. |
Sachbezogen oder "ichhaft" |
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Letztlich nimmt jeder Mensch tendenziös wahr, weil er alles, was
er hört und sieht, vor dem Hintergrund seiner Persönlichkeit, seiner
Einstellung zu anderen Menschen und seiner bewussten und unbewussten Ziele filtert. In jeder beruflichen,
privaten und politischen Situation mischen sich in der Wahrnehmung
realitätsbezogene mit ichhaften ("neurotischen") Komponenten, doch das Mischungsverhältnis
ist sowohl von Person zu Person als auch von Situation zu Situation
sehr unterschiedlich. Je ängstlicher und "ichhafter" ein Mensch ist,
desto stärker bestimmen diese Tendenzen auch seine Wahrnehmung.
Umgekehrt nehmen wir eine Situation umso tendenziöser wahr, je mehr sie an unsere persönlichen Angstbereiche rührt.
Wenn jemand zum Beispiel zu Autoritätsangst neigt, wird er eine
Präsentation vor dem Vorstand ichhafter und tendenziöser wahrnehmen
als ein anderer, der ein eher gelassenes Verhältnis zu Ranghöheren
hat. Und noch mehr: Schon die extreme Überhöhung von Autoritäten,
die die Autoritätsangst sowohl auslöst als auch ausmacht, ist Ausdruck
tendenziöser Wahrnehmung. |
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Das heißt in der Konsequenz, dass wir in all jenen Situationen besonders tendenziös und damit fehlerhaft wahrnehmen, in denen unsere Angstbereiche
berührt sind und wir unter Druck kommen.
Je zahlreicher und größer also die Angstbereiche, desto häufiger sind Stresssituationen, und desto ausgeprägter sind Ichhaftigkeit und tendenziöse, das heißt verzerrte Wahrnehmung. |
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Persönlichkeitsentwicklung für Change Manager |
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Gerade für (externe wie interne) Change Manager hat dies große
Bedeutung, denn sie müssen dazu in der Lage sein, auch unter erheblichem
Druck sachbezogen und möglichst wenig "ichhaft" wahrzunehmen
und zu handeln. Wenn sie in kritischen Situationen furchtsam nach dem Auftraggeber
schielen, irritierende Informationen oder Beobachtungen nicht zur
Kenntnis nehmen oder aus Harmoniebedürfnis Konflikte verharmlosen oder ihnen aus Ängstlichkeit aus dem Weg gehen, dann büßen sie auch bei höchster
fachlicher Qualifikation viel von ihren positiven Wirkungs- und
Einflussmöglichkeiten ein. Das Gleiche gilt, wenn sie sich in persönliche
Rangeleien hineinziehen lassen, sich an unsauberen Spielchen beteiligen
oder sonst wie ihre persönlichen Interessen und Bedürfnisse höher
stellen als die Sache. |
Anforderungen an
Change Manager |
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Ichhaftigkeit und tendenziöse Wahrnehmung lassen sich nicht völlig ausschalten,
weil wir unsere Persönlichkeit ebenso wenig ablegen können wie unsere
Lebensgeschichte. Sie lassen sich aber entschärfen, und zwar auf doppelte
Weise: Zum einen durch persönliche Weiterentwicklung, zum anderen
durch die Nutzung des Potenzials von Gruppen. |
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In dem Ausmaß, wie wir unsere persönlichen Angstbereiche und Verfärbungsmuster
erkennen, ihren lebensgeschichtlichen Hintergrund verstehen und
manche einseitigen Betrachtungsweisen überwinden, sind wir ihnen
nicht mehr ausgeliefert. Es ist durchaus möglich, durch Selbstreflexion und systematische Persönlichkeitsentwicklung
die eigenen Angstbereiche (und damit die unbewussten Ziele der eigenen Wahrnehmungstendenzen) kennenzulernen und schrittweise abzubauen. Der beste Weg dazu ist eine Coaching- oder
Supervisionsgruppe unter kompetenter Leitung.
Selbstreflexion im Alleingang stößt in aller Regel bald an Grenzen, weil es uns ohne die Reflexion eines Coaches und/oder einer Gruppe kaum möglich ist, unsere blinden Flecken zu erkennen. |
Die eigenen Tendenzen
beherrschen lernen |
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Der andere, ergänzende Weg, der eigenen tendenziösen Wahrnehmung
entgegenzuwirken, ist, die eigene Sichtweise so oft wie möglich mit anderen Menschen
abzugleichen – und zwar möglichst offen und neugierig. Spannend
sind dabei vor allem die Punkte, wo die Sichtweisen auseinander
gehen, denn dort, wo die Meinungen übereinstimmen, kann man nicht
viel lernen – dort haben entweder alle recht oder keiner. (Erinnern
wir uns an Sokrates: Die hundertprozentige Übereinstimmung zahlreicher Menschen ist ebenso wenig ein Wahrheitsbeweis wie die Inbrunst der eigenen Überzeugung.) Wo die Meinungen hingegen
auseinandergehen, sind Sie möglicherweise tendenziöser Wahrnehmung
auf der Spur, entweder bei Ihnen oder bei anderen (oder bei beiden). Deshalb lohnt es sich, den festgestellten Unterschieden, statt sie
zu verwischen und mit diplomatischen Formulierungen zuzukleistern, mit den Methoden der rationalen
Konsensfindung nachzuspüren und gemeinsam zu prüfen, welche
Perspektiven sich mit Gründen erhärten lassen und welche einer Prüfung nicht standhalten. Gewonnen hat in diesen Fällen nicht, wer recht hatte, sondern wer am meisten dazulernt. Und das ist der, der am ehrlichsten die eigene Wahrnehmung überprüft und
neue Einsichten annimmt. |
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Quellen:
Adler, Alfred (1927): Menschenkenntnis; Fischer Taschenbuch Verlag
Lewin, Kurt (1917): Kriegslandschaft; Werkausgabe, Band 4: Feldtheorie |
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