Die Umsetzungsberatung

Lexikon des Change Management






Winfried Berner, Regula Hagenhoff, Th. Vetter, M. Führing
"Ermutigende Führung"

Für eine Kultur des Wachstums

Ermutigende Führung: Für eine Kultur des Wachstums

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Winfried Berner:
Culture Change

Unternehmenskultur als Wettbewerbsvorteil

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"CHANGE!" (Erweit. Neuauflage)

20 Fallstudien zu Sanierung, Turnaround, Prozessoptimierung, Reorganisation und Kulturveränderung

Change! - 20 Fallstudien zu Sanierung, Turnaround, Prozessoptimierung, Reorganisation und Kulturveränderung

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Rationale Konsensfindung: Gründe statt Gruppendynamik

 

Winfried Berner, Die Umsetzungsberatung

 

Auch wenn gescheite Leute miteinander reden, kommen richtige Erkenntnisse und optimale Entscheidungen nicht allein dadurch zustande, dass man nur lange und intensiv genug diskutiert. Denn Gruppendiskussionen erzeugen im Normalfall keinen rationalen, sondern einen emotionalen Konsens. Das heißt, die Gruppe einigt sich zwar nach einiger Zeit auf ein Ergebnis, aber die erzielte Einigkeit ist noch lange keine Gewähr dafür, dass diese Lösung auch richtig ist und in der Praxis funktioniert. Um einen rationalen Konsens zu erreichen, das heißt eine Lösung von größtmöglicher Realitätstauglichkeit, ist es notwendig, im Vorgehen einige grundlegende Regeln einzuhalten.

  • Meist entsteht nur emotionaler Konsens
  • Was genau ist der Unterschied zwischen rationalem und emotionalem Konsens? Emotionaler Konsens ist das Ergebnis eines Gruppenprozesses, an dessen Ende sich die Gruppe auf ein Ergebnis geeinigt hat, mit der alle ihre Mitglieder leben können. Die Fähigkeit, einen solchen emotionalen Konsens herzustellen, ist wichtig für den Gruppenzusammenhalt, weil sie einen Ausgleich der Wünsche und Interessen herstellt und so für ein Mindestmaß an Zufriedenheit sorgt. Rationaler Konsens hingegen ist das Ergebnis einer analytischen Sachdiskussion ("rationaler Diskurs"), an deren Ende die Beteiligten die bestmögliche Annäherung an die Wahrheit gefunden bzw. eine – auf Basis der verfügbaren Informationen – optimale Entscheidung getroffen haben.

  • Der Unterschied
  • Rationaler Konsens gewährleistet also Realitätstauglichkeit, emotionaler Konsens sorgt für Akzeptanz. Ganz offensichtlich kann man auf keines von beiden verzichten, wenn man etwas bewegen will. Es kann also nicht darum gehen, das eine zu glorifizieren und das andere zu verdammen; vielmehr ist wichtig, die Unterschiede zwischen den beiden zu verstehen – und dann ihre Ergänzungspotenziale zu erschließen.

  • Die richtige Verbindung
  • Willensbildung oder Wahrheitsfindung

     

    Dass Diskussionen in erster Linie auf einen emotionalen Konsens zusteuern, liegt einfach darin, dass die Fähigkeit zur gemeinsamen Willensbildung lebenswichtig für die Funktionsfähigkeit von Gruppen ist. Gleich ob heute oder vor 10.000 Jahren, Gruppen gleichen die Wünsche, Bedürfnisse und Vorschläge ihrer Mitglieder in einem "Palaver" ab; die Wünsche und Vorstellungen der einzelnen Mitglieder werden dabei gewichtet nach (a) ihrer Rangposition in der Gruppe, (b) der Anschlussfähigkeit ihrer Ideen und (c) dem Nachdruck und Geschick, mit dem sie ihre Forderungen vertreten. Die angesehensten Gruppenmitglieder haben prinzipiell die besten Chancen, ihre Vorstellungen durchzusetzen (a); wenn aber andere Mitglieder mitreißende Ideen einbringen (b), besonders vehement für ihre Vorstellungen kämpfen (c) oder sich geschickt mit anderen verbünden (c), haben sie ebenfalls Chancen, wesentliche Teile ihrer Vorstellungen durchzubringen.

  • Interessen- und Kräfteabgleich
  • Der emotionale Konsens ist also eine Einigung, die die in der Gruppe vorhandenen Bedürfnisse und Kräfteverhältnisse widerspiegelt. Es kann schnell zustande kommen, wenn die Interessen relativ homogen und die Kräfteverhältnisse klar sind; es kann aber auch lange dauern, wenn die Interessen weit auseinander gehen oder einzelne Gruppenmitglieder die "Sachdiskussion" nutzen, um Antipathien auszuleben oder um Rivalitäten und Rangkämpfe auszutragen. Im Extrem kann die Gruppe dabei auch zerbrechen und sich in Teilgruppen aufspalten – aber das kommt relativ selten vor. In aller Regel findet die Gruppe auf diesem Weg zu einer Entscheidung, mit der alle – insbesondere aber die starken Gruppenmitglieder – leben können.

  • Emotionaler Konsens
  • Was eine gewachsene und bewährte Methode der Willensbildung ist, ist indes ein völlig ungeeignetes Verfahren zur rationalen Problemanalyse und zum Treffen von Entscheidungen. Denn wenn es um die Frage "richtig oder falsch" geht, zählt weder Prominenz noch Vehemenz noch Eloquenz – da zählt alleine die Qualität der Argumente. Bei dem schwierigen Unterfangen der "Wahrheitsfindung" helfen nicht Wünsche, Glaubenssätze und "felsenfeste Überzeugungen" weiter, sondern allein Fakten und Gründe.

  • Ungeeignet zur "Wahrheits-
    findung"
  • Der wichtige Unterschied zwischen Wahrheit und Gewissheit

     

    Dem griechischen Philosophen Sokrates (470 – 399 v.Chr.) verdanken wir die irritierende Erkenntnis, dass Wahrheit dem menschlichen Erkenntnisvermögen prinzipiell unzugänglich ist. Nur bei unmittelbar beobachtbaren Dingen ("Die Herdplatte ist heiß") können wir zweifelsfrei feststellen, ob eine Aussage wahr oder falsch ist. Sokrates verärgerte das antike Athen nachhaltig, indem er seine Mitbürger der Dummheit und Intoleranz zieh: Der Dummheit, weil sie ihre Überzeugungen ständig mit der Wahrheit verwechselten und nicht in der Lage (oder nicht bereit) waren, sauber zwischen beidem zu unterscheiden. Und der Intoleranz, weil sie die Meinung anderer nicht gelten ließen, sondern immer ihre eigene – vermeintlich wahre – Auffassung für die einzig richtige hielten.

  • Die "sokratische Differenz"
  • "Wahr" ist eine Aussage genau dann, wenn sie die Realität (genauer: einen Ausschnitt der Realität) zutreffend beschreibt – wenn also der behauptete Sachverhalt oder Zusammenhang tatsächlich besteht. Dagegen bezeichnet Gewissheit das subjektive Gefühl des Überzeugt-Seins, das sich etwa in der Aussage äußert: "Ich bin mir absolut sicher, dass ..." oder: "Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass ..."

    Das zentrale Problem nicht nur der Philosophie, sondern auch jeder einzelnen praktischen Entscheidung ist, dass es nur einen losen Zusammenhang zwischen Wahrheit und Gewissheit gibt. Gewissheit besagt bei genauerer Betrachtung eigentlich nur, wie es der Jesuit, Philosoph und Managementtrainer Rupert Lay formuliert hat, dass wir den Wahrheitsgehalt einer Aussage nicht mehr ernstlich in Zweifel ziehen können oder wollen. Das heißt, Gewissheit ist, was wir subjektiv für Wahrheit halten – unabhängig davon, ob es tatsächlich stimmt.

  • Wahrheit

  • Gewissheit
  •  

    Die von Sokrates kritisierte Neigung, Gewissheit mit Wahrheit zu verwechseln, ist heute noch genau so verbreitet wie vor 2.400 Jahren; nur der Umgang mit radikalen Philosophen à la Sokrates ist möglicherweise etwas toleranter geworden. Doch wenn wir erst einmal darauf aufmerksam geworden sind, fällt auf: Die Nachrichten sind voll von Meldungen, in denen Alpha-Tierchen ihre persönlichen Gewissheiten mit dem Anspruch auf Wahrheit verkünden: "Der Bundeskanzler (US-Präsident, Parteivorsitzende ...) ist zutiefst davon überzeugt, dass ..." So dumm und intolerant diese Gleichsetzung auch heute noch ist, so mühsam ist es, sich ihr zu entziehen. Denn es ist schwer, mit dem Bewusstsein zu leben, die Wahrheit nicht erkennen zu können – und es ist noch schwerer, in diesem Bewusstsein zielgerichtet und entschlossen zu handeln. Also neigen gerade Tatmenschen auch heute noch dazu, die irritierende Erkenntnis des alten Sokrates zu verdrängen.

  • Verwechslung geht weiter
  • Doch diese Verwechslung kann äußerst unangenehme Folgen haben. Nehmen wir folgende alltägliche Pressemeldung: "Der Vorstandsvorsitzende erklärte, er sei felsenfest davon überzeugt, dass die beiden Unternehmen in idealer Weise zusammen passen und es binnen kurzem möglich sein werde, erhebliche Synergien zu realisieren, die in einer erheblichen Steigerung des Aktienkurses resultieren werden." Dummerweise schafft die feste Überzeugung von einem strategischen Fit noch keinen solchen Fit. Gerade Menschen in Top-Positionen gelangen oftmals sehr rasch zu "festen Überzeugungen", manchmal schon nach einer oberflächlicher Betrachtung der Situation oder einer kurzer Diskussion, in der sie sich mit ihren Getreuen darauf verständigen, was sie ab sofort für Realität zu halten gedenken. Bitter, wenn sich die Realität an diese Gewissheiten nicht gebunden fühlt – dann kann die Sache sowohl für die Betreffenden selbst als auch für deren Mitarbeiter und Aktionäre übel ausgehen. Mit anderen Worten:

  • Gefährliche Verwechslung
  • Die Verwechslung von Wahrheit und Gewissheit ist nicht bloß ein philosophischer Fauxpas von begrenzter praktischer Bedeutung, sondern eine äußerst reale Gefahr.

     

    Deshalb ist es ein Warnsignal, wenn in Unternehmen (oder in der Politik) allzu schnell mit "felsenfesten Überzeugungen" und "absoluter Sicherheit" hantiert wird, statt sich die Mühe von Analysen und sorgfältiger Sachdiskussionen zu machen. Meistens ist dies entweder ein Indiz für Nachlässigkeit oder, noch verheerender, für Realitätsablösung und den Glauben, Träger höherer Weisheit zu sein. Ähnliches gilt, wenn allzu schnell "aus dem Bauch heraus" entschieden wird. Denn der Glauben, unsere Intuition führe uns unfehlbar zu optimalen Entscheidungen, ist nichts als ein bequemer Selbstbetrug. Die Erfahrung zeigt, dass intuitive Entscheidungen um so besser ausfallen, je sorgfältiger zuvor die Möglichkeiten der rationalen Erkenntnis ausgeschöpft wurden.

  • Warnsignale
  • Annäherung an die Wahrheit durch einen "rationalen Diskurs"

     

    Wie eingangs erwähnt, braucht man, um einen emotionalen Konsens herbeizuführen, den Diskussionsverlauf nur sich selbst zu überlassen: "Emotionaler Konsens" ist sozusagen der "Default Value" für Gruppendiskussionen. Um hingegen einen rationalen Konsens herbeizuführen, ist es notwendig, einige Grundsätze und Regeln zu beachten. Ihr übergeordnetes Ziel ist, sicherzustellen, dass einzig und allein die Qualität der Argumente über das Ergebnis entscheidet. Dementsprechend müssen alle anderen Einflussfaktoren – gruppendynamische Effekte ebenso wie Denkfehler und Vorurteile, Glaubenssätze und Bekenntnisse – so weit wie möglich ausgeschaltet werden.

  • Nur die Qualität der Argumente
  • Die wichtigste Voraussetzung hierfür ist ein "herrschaftsfreier Diskurs". Hinter diesem etwas elitären Begriff verbergen sich nicht, wie misstrauische Seelen argwöhnen könnten, die anarchistischen oder basisdemokratischen Neigungen mancher Philosophie-Professoren; vielmehr geht es darum, einen wesentlichen gruppendynamischen Störfaktor der rationalen Konsensbildung auszuschließen, nämlich formelle und informelle Hierarchien. Denn für die Frage, ob ein Argument sticht, spielt nur die Qualität des Arguments selbst eine Rolle – ist es unerheblich, ob es vom Lehrbuben oder vom Meister kommt. Also ist notwendig, dass sich die Beteiligten darauf verständigen, dass hierarchische Position und Status innerhalb der Diskussion keine Rolle spielen. Für die Ranghöheren bedeutet das bewussten Dominanzverzicht; den Rangniedrigeren verlangt es den Mut ab, ihre wahre Meinung ohne Selbstzensur und taktische Erwägungen zu äußern.

  • "Herrschafts-
    freier Dialog"
  • Um Missverständnisse auszuschließen: Hierarchie und Status sind damit nicht generell tabu, sondern nur für die Dauer der Diskussion. Es ist durchaus mit dem Grundsatz des "herrschaftsfreien Dialogs" vereinbar, dass der Chef nach Abschluss der Diskussion die alleinige Entscheidung trifft. Ebenso kann es sein, dass auch in einem herrschaftsfreien Dialog der Meister aufgrund seiner Erfahrung und Weisheit häufig die besseren Argumente hat als der Lehrbub – zu beurteilen ist dies jedoch ausschließlich nach der Qualität der Begründung und nicht nach "Rang und Namen".

  • Hierarchie-
    freiheit
  • Manchmal wird hiergegen eingewendet, dass es nicht möglich sei, in der einen Situation hierarchiefrei miteinander umzugehen und in der nächsten hierarchisch; das würde die Rollenflexibilität der beteiligten Personen überfordern. Unsere Erfahrung ist, dass es doch geht. Das soll nicht heißen, dass es einfach ist: Es fordert allen Beteiligten ein Stück Disziplin und Mut ab.

    Doch kenne ich eine ganze Reihe von Beispielen dafür, dass ein herrschaftsfreier Dialog auch über mehrere Hierarchieebenen hinweg funktionieren kann, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Der oder die "Oberen" müssen es wirklich wollen, und die "Unteren" müssen ihre Autoritäts- und Sanktionsängste schrittweise so weit überwinden, dass sie frei von der Leber weg reden und auch den Mut haben, Dinge zu sagen, die sich als Unsinn entpuppen den "Oberen" nicht passen. Dieser Zuwachs an Mut findet nur dann statt, wenn die "Oberen" ihren freiwilligen Dominanzverzicht konsequent durchhalten, und das heißt in erster Linie: Keine Argumente der "Unteren" ohne ernsthafte Diskussion vom Tisch wischen.

  • ... innerhalb hierarchischer Strukturen?
  • Die eigentliche Brisanz der Forderung nach einem herrschaftsfreien Dialog liegt denn auch in der Diskussionsdisziplin, die sie den Vorgesetzten abverlangt. Dominante Personen ("Alphatiere"), wie sie auf höheren Hierarchieebenen mit überzufälliger Häufigkeit vorkommen, neigen nun einmal dazu, ihre Gewissheiten zur Wahrheit zu erklären und andere Sichtweisen brüsk zurückzuweisen – frei nach der Devise: "Es gibt nur zwei Arten von Meinungen: meine und falsche." Sobald aber solche Dinge wie Hierarchie, Dominanz, Macht, Eigeninteressen oder auch dogmatische Überzeugungen ins Spiel kommen, ist der rationale Diskurs geplatzt. Wenn der "Platzhirsch" mit apodiktischen Erklärungen Gefolgschaft einfordert, erkennen die Mitarbeiter rasch, dass nun Schluss mit Wahrheitsfindung ist, weil der Chef keine Lust auf weitere Wahrheiten mehr hat.

  • Dominanz und Hierarchie
  • Gemeinsam um Erkenntnisfortschritt ringen

     

    Eine zweite wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen rationalen Diskurs ist, dass die Teilnehmer, wie Michael Löhner es so treffend formuliert hat, nicht gegeneinander kämpfen, sondern gemeinsam gegen das Problem. Mit anderen Worten, die Sachdiskussion darf nicht in ein Streitgespräch abgleiten. Denn die Frage, wer (als Person) Recht hat, ist im rationalen Diskurs nicht nur unerheblich, sondern kontraproduktiv, weil sie dem übergeordneten Ziel, der Wahrheit (bzw. einer optimalen Lösung) näher zu kommen, im Wege steht. Mit größter Wahrscheinlichkeit hat keiner der Beteiligten völlig recht, sondern jeder Einzelne kann aus seiner Erfahrung nützliche Bausteine zum Erkenntnisfortschritt beisteuern.

  • Gemeinsam gegen das Problem kämpfen
  • Der Idealfall ist, wenn die Teilnehmer sich innerlich dazu entschließen, auf jede Konkurrenz und sämtliche "Guckt-mal-wie-schlau-ich-bin"-Appelle zu verzichten und sich mit vereinten Kräften auf die Lösung des Problems zu konzentrieren. Wenn sie sich hierfür entscheiden, ist die einzig logische Konsequenz, dass sie nicht mehr zwischen "meinem Argument" und "deinem Argument" unterscheiden, sondern ihr gemeinsames Wissen und ihre ganze Klugheit zusammenlegen und überprüfen, welche Erkenntnisse sich daraus in einem gemeinsamen Denkprozess ableiten lassen. Dann ist jedes Argument und jeder Hinweis willkommen, das neue Erkenntnisse bringt – völlig egal, von wem es kommt.

  • Konkurrenz-
    freie Zusammenarbeit
  • Eine nützliche Hilfe für diese Entscheidung ist, sich klar zu machen, dass die einzige Chance zum gegenseitigen Lernen dort liegt, wo die Gewissheiten der anderen von den eigenen abweichen. Dort, wo Übereinstimmung besteht, ist kein Erkenntnisfortschritt möglich – nicht, weil dort die Wahrheit schon erreicht wäre, sondern weil keine alternative Sichtweise die gemeinsamen Gewissheiten in Frage stellt. Statt also dort, wo wir mit einer anderen Sichtweise konfrontiert sind, sofort Bekehrungsversuche einzuleiten (die fast zwangsläufig in ein Streitgespräch münden), ist es viel spannender, zu erkunden, wie der andere eigentlich zu seiner Sichtweise kommt, und zu schauen, was sich daraus lernen lässt. Erfahrungsgemäß gelingt es nicht allen, ihr Ego so weit zurückzunehmen und so sachbezogen zusammenzuarbeiten. Doch einen gewissen "Störpegel" verkraftet der rationale Diskurs; nur wenn es zu viel wird, kippt er um.

  • Differenzen ermöglichen Erkenntnis-
    fortschritt
  • Die dritte Voraussetzung für einen rationalen Diskurs ist, dass sich alle Teilnehmer bemühen, ihre mitgebrachten Überzeugungen und "Vor-Urteile" in Frage stellen zu lassen und ihre Meinungen gegen Gründe zu ändern. Idealerweise sollten sie sich wie ein gerechter Richter nur auf objektive Beweise – Zahlen, Daten, Fakten – und logische Schlussfolgerungen stützen.

  • In Frage stellen lassen

  • Von den Fakten zu den Erklärungsmodellen

     

    Deshalb muss am Anfang eine sorgfältige Bestandsaufnahme stehen, bei der die verfügbaren Fakten analysiert werden. Wenn nötig, müssen zusätzliche Daten erhoben und weitere Analysen durchgeführt werden, damit man nicht auf der Basis von Mutmaßungen und Spekulationen diskutiert, sondern auf der Basis von Tatsachen. Aber auch das ist schwieriger als es klingt, denn es erfordert eine Unterbrechung der Diskussion für die Recherche: Dann muss man sich vertagen und in der Zwischenzeit die fehlenden Informationen beschaffen und zur Not selbst erheben. Weil das jedoch Zeit kostet und mühsam ist, neigen Gruppen oft dazu, Fakten durch Meinungen und Annahmen zu ersetzen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie "beschließen" dann einfach, was Tatsache ist. Nur dumm, dass sich die Realität meist nicht nach diesen Beschlüssen richtet.

  • Fakten recherchieren statt beschließen

  • Da Daten und Analysen aber nur Fakten und Korrelationen liefern, aber nicht deren innere Logik und deren Zusammenhänge, muss auf den Fakten ein Diskussion aufbauen, in der man gemeinsam versucht, genau diese Zusammenhänge zu verstehen. Dabei gelten im Grundsatz die Regeln der wissenschaftlichen Theoriebildung: Ein Erklärungsmodell ist dann brauchbar, wenn es erstens alle beobachteten Fakten integriert, und zweitens trennscharf ist, also auch zutreffende Vorhersagen darüber macht, unter welchen Bedingungen die gleichen Fakten nicht auftreten dürfen.

  • Erklärungs-
    modelle
  • Dabei gibt es ein Hindernis, das der Nobelpreisträger Daniel Kahneman und sein verstorbener Kollege Amos Tversky "Confirmation Bias" genannt haben: Wenn wir einmal ein Erklärungsmodell gefunden haben, das uns überzeugt, neigen wir dazu, nach Bestätigungen zu suchen: Wir sammeln andere Beispiele, die zu diesem Erklärungsmodell passen. Wenn wir das Erklärungsmodell aber wirklich auf die Probe stellen wollten, müssten wir nicht nach Bestätigungen suchen, sondern nach Gegenbeispielen. Und schließlich gilt eine Regel, die in der Erkenntnistheorie als "Ockhams Rasiermesser" (Ockham's Razor) bezeichnet wird: Von zwei Erklärungen, die diese Voraussetzungen erfüllen, ist im Zweifelsfall ("ceteris paribus") die einfache zu bevorzugen.

  • Nicht nach Bestätigungen suchen, sondern nach Gegenbeispielen
  • Bereits in der Antike entstanden, ausgehend von Platon, dem wichtigsten Schüler des Sokrates, dialektische Techniken zum Erarbeiten von rationalem Konsens. (Dialektik steht hier nicht, wie das Wort heute oft verstanden wird, für trickreiche Methoden, andere über den Tisch zu ziehen, sondern bezeichnet die Kunst, über gemeinsamen Erkenntnisfortschritt Probleme zu lösen und Entscheidungen vorzubereiten.) Die Dialektik zählte in der Antike zum Grundbestand höherer Bildung; sie wurde bis ins Mittelalter mit großer Sorgfalt gepflegt, ist heute aber weitgehend verloren gegangen. Dem bereits erwähnten Rupert Lay (siehe Literaturempfehlung) kommt das große Verdienst zu, diese Techniken für heutige Leser aufbereitet und in seinen Seminaren wieder belebt zu haben. Dazu zählt insbesondere die Technik der Konstruktion von Bedingungskatalogen (die so genannte "Fahnenbildung") und der Einsatz formaler Logik zur Prüfung von Schlüssen.

  • Dialektische Techniken
  • Literatur:
    Lay, Rupert (1989): Kommunikation für Manager

    Keine leichte Kost, aber eine lohnende Auseinandersetzung für jeden, der an klarem, sauberem Denken interessiert ist. Der ehemalige Jesuitenpater hat die fast verloren gegangenen Techniken der rationalen Konsensbildung für die heutige Zeit aufbereitet, fordert seinen Lesern aber ein gewisses Stehvermögen ab. Das Buch enthält zahlreiche methodische Beispiele aus den Bereichen Führung, Politik und Ethik.

    Kahneman, Daniel (2011): Thinking, Fast and Slow (Deutsch: Schnelles Denken, langsames Denken)

    Anschaulich, mit großer Klarheit, Witz umfassendem Wissen erklärt Nobelpreisträger Daniel Kahneman, wie unser Denken, Urteilen und Entscheiden funktioniert und welche systematischen Fehler wir dabei machen.


     


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