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Bestandsaufnahme: Weshalb Sie auf einer sorgfältigen Problemanalyse
bestehen sollten |
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Winfried Berner, Die Umsetzungsberatung |
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Nur wenn man ein Problem wirklich verstanden hat, hat man die
Chance, eine tragfähige Lösung dafür zu entwickeln. Je komplexer
das Problem, desto unwahrscheinlicher ist, ohne wirkliches Verstehen
der Zusammenhänge eine Lösung zu finden, die hinterher auch
wirklich funktioniert. Eine mangelhafte Bestandsaufnahme ist daher
eine der häufigsten Ursachen, weshalb vor allem interne Projekte
scheitern. Denn wenn die analytischen Hausaufgaben nicht gemacht
sind und die Lösung am Kern des Problems vorbei geht, hilft auch
größter Einsatz bei der Umsetzung nicht. |
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Eine gute Bestandsaufnahme zu machen, ist in erster Linie ein psychologisches
Problem – insbesondere für interne Projektteams. Während sich externe
Berater zu einer sorgfältigen
Analyse schon deshalb stark motiviert sind, weil sie das Unternehmen nicht kennen und die Bestandsaufnahme für sie das zentrale Instrument ist, seine Problemlage besser verstehen zu lernen,
haben Interne das entgegengesetzte Problem: Sie kennen das Unternehmen
nur allzu gut und sind der festen Überzeugung, alles Wesentliche
über das Problem längst zu wissen. Und natürlich haben sie längst
konkrete Lösungsideen im Kopf. Infolgedessen sind sie sich schnell
einig: "Lasst uns keine Zeit mit umständlichen Analysen verlieren!
Wir wissen doch alle, wo der Hase im Pfeffer liegt!" (Allgemeines Nicken.) |
"Wir kennen
das Problem!"
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Vorsicht, Falle! |
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Je vertrauter wir mit einer Sache sind, desto sicherer sind wir,
alles Wesentliche bereits zu wissen, und desto überflüssiger erscheint
es uns daher, Zeit und Energie für Analysen aufzuwenden: In der Psychologie nennt man das Kontrollillusion. Leider
spielt uns dabei unser Gehirn einen Streich: Zwar wissen
wir in der Regel tatsächlich einiges über das fragliche Problem, aber eben längst nicht
alles. Unser Gehirn ist aber so konstruiert, dass es aus unvollständigen
Daten ein vollständiges – oder genauer: ein vollständig erscheinendes – Bild erzeugt. Diese Eigenschaft hat im täglichen
Leben viele Vorteile, aber sie macht es uns sehr schwer zu erkennen,
wann uns wesentliche Informationen fehlen. Stattdessen sind wir
uns in solchen Fällen sicher, dass unsere Informationen entweder
(so gut wie) vollständig sind – oder dass zumindest das (vermeintlich)
wenige, was wir nicht wissen, das Bild nicht verändern würde und daher
unwesentlich ist. |
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Doch aus Gewissheit folgt keine Wahrheit. Unsere felsenfeste Überzeugung,
alles Wesentliche zu wissen, sagt leider überhaupt nichts über den
Wahrheitsgehalt ebendieser Überzeugung aus. Auf die tiefe Kluft
zwischen Wahrheit und Gewissheit hat schon der alte Sokrates aufmerksam
gemacht: Wahrheit liegt dann vor, wenn eine Aussage mit der Realität
übereinstimmt. Gewissheit hingegen ist lediglich ein psychischer Zustand,
nämlich die Unfähigkeit oder Unwilligkeit, unsere Überzeugung noch zu bezweifeln ( Rationalität).
Unglücklicherweise haben wir keine Übung damit, zwischen sicherem Wissen
und bloßer Gewissheit zu trennen. Die Verwechslung von Gewissheit mit Wahrheit
ist die tiefere Ursache vieler folgenschwerer Fehler: "Assumption is the mother of all fuck-up", heißt es dazu derb, aber treffend im Anlagenbau. |
Verwechslung von
Gewissheit mit Wahrheit |
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Das Dumme ist: Gegen das sichere Gefühl, alles Wesentliche bereits zu wissen, kann man sich nur schwer wehren. Unsere Annahmen über die Realität werden,
wenn wir genug Erfahrung (= Zeit) mit einer Materie gesammelt
haben, zur unbezweifelbaren "psychologischen Tatsache". Unsere einzige
Chance diesen "Sog der Gewissheit" ist, im Wissen über diesen Mechanismus
ein Stück "Distanz zur eigenen Gewissheit" (Michael Löhner) aufzubauen
und uns bewusst zu entscheiden, der Realität eine
faire Chance gegen unsere Annahmen und Überzeugungen zu geben – was praktisch so viel heißt wie: Trotzdem noch einmal genau hinzuschauen bzw. andere Menschen dazu zu befragen. Denn: |
Distanz zur eigenen
Gewissheit |
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Nur wer das Problem wirklich verstanden hat, hat die Chance,
eine tragfähige Lösung zu finden. |
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Gerade bei der Arbeit mit internen Teams ist wichtig, für die Bestandsaufnahme
Untersuchungsmethoden zu wählen, die über die Alltagsbeobachtungen
des Teams hinausgeht. Schon die einfachste Form, das Zählen – etwa
in Form einer Häufigkeitsverteilung – bringt immer wieder Überraschungen.
So wussten die Mitglieder einer Versandabteilung aus langjähriger
Erfahrung, dass es in ihrem Geschäft relativ viele "Ausnahmen von
der Regel" gab. Aber sie waren doch überrascht, als eine Auszählung
über drei Wochen ergab, dass die zwei häufigsten Ausnahmen häufiger
vorkamen als die Regel – dass also der definierte "Regelfall" statistisch
eine Ausnahme war. |
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Ein bewährter Tipp ist weiter, konsequent das "Niemandsland zwischen den Zuständigkeiten" zu
erforschen. Wenn ein internes Projektteam gut zusammengestellt ist,
sitzt sehr viel Know-how über das fragliche Thema am Tisch – aber
keiner hat wirklich das Gesamtbild. Der eine weiß (fast) alles darüber,
wie die Auftragsannahme funktioniert, der nächste kennt Disposition
und Arbeitsvorbereitung bis ins Detail, der dritte die Produktion,
der vierte die Logistik ... Aber was genau an den Schnittstellen zwischen Auftragsannahme
und Dispo / AV passiert oder wie der Übergang von der Produktion
in die Logistik funktioniert, das weiß keiner so richtig. Genau
in diesem Niemandsland zwischen den Zuständigkeiten stecken aber häufig die Probleme. |
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Präzise
und vollständige Beschreibungen des tatsächlichen Prozessdurchlaufs (samt der Erfassung von Liege-
und Bearbeitungszeiten) bringen hier oftmals neue Erkenntnisse –
und damit Ansatzpunkte für neue Ideen und Lösungswege. Wie das geht, das hat vor Jahren eine Schlagzeile im Harvard Business Review exakt auf den Punkt gebracht: "Staple yourself to an order" – heften Sie sich an einen Auftrag. Beispielsweise kann man die eingehenden Aufträge für einige Zeit mit Laufzetteln versehen, in denen ganz simpel für jeden Bearbeitungsschritt Datum und Uhrzeit, bearbeitende Stelle und Bearbeitungsdauer erfasst werden. Sie wären nicht die ersten, wenn die Auswertung dieser Laufzettel einige Überraschungen ans Tageslicht bringen. |
Sich an einen Auftrag heften |
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Zahlreiche Fallbeispiele zu den unterschiedlichsten Typen von Change-Projekten finden Sie in meinem Buch "Change! – 20 Fallstudien zu Sanierung, Turnaround, Prozessoptimierung, Reorganisation und Kulturveränderung" (Schäffer-Poeschel, 2. erweiterte Auflage 2015). Es vermittelt Ihnen einen breiten Überblick über die unterschiedlichsten Arten von Veränderungsprozessen und zeigt Ihnen, worauf es jeweils ankommt, um Ihre Change-Vorhaben zum Erfolg zu führen.
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Hypothesengetriebene Bestandsaufnahme statt übereifriger Faktenhuberei! |
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Aber Vorsicht! Die Analyse von Daten ist kein Selbstzweck. Man muss sich also
hüten, fleißig, pflichtbewusst und planlos sämtliche Daten zu erfassen und zu
analysieren, die einem in den Sinn (oder zwischen die Finger) kommen.
Schließlich gibt es unendlich viele Daten auf der Welt – schon in
einer einzigen Abteilung weit mehr, als man je erfassen, geschweige
denn auswerten könnte (und sollte). Das heißt, es hat überhaupt
keinen Sinn, ziellos auf Verdacht Daten zu erheben. Zahlen, Daten
und Fakten sollen Fragen beantworten – um die richtigen Daten zu erheben, muss man also erst einmal sinnvolle Fragen formuliert haben. Denn die Antworten, die die Daten liefern,
können maximal so gut sein wie die gestellten Fragen. |
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Gute Fragen setzen eine Hypothese voraus, das heißt, eine Vermutung über
das Bestehen eines Zusammenhangs oder einer Kausalität. Entscheidend ist nicht, ob sich
die Hypothese am Ende als richtig erweist – viel wichtiger ist,
dass sie bei der gezielten Überprüfung von Zusammenhängen hilft
– und zwar durch die Erhebung von Fakten, nicht mit wortreichen Beschreibungen, die bei genauerem Hinsehen nur als Überzeugungen getarnte Spekulationen sind. Gleich was dabei an Resultaten
herauskommt, es führt immer zu neuen Erkenntnissen und damit zu
einem besseren Verständnis dessen, wie das Gesamtsystem funktioniert. Und genau das, ein genaues Verstehen der Zusammenhänge, ist Voraussetzung
für die Entwicklung praxistauglicher Lösungen. |
Hypothesen formulieren
und prüfen |
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Gute Hypothesen entstehen aus der Mischung von Vertrautheit und
Distanz, von Neugier und Erfahrung. Sie können von einzelnen Personen
kommen, aber auch aus der Diskussion des Teams entstehen. Für letzteres
ist eine möglichst heterogene Zusammensetzung des Projektteams nützlich:
Wenn die einen relativ neu sind und die anderen große Erfahrung
haben, die einen in die eine Richtung und die anderen in die andere
Richtung denken, ist das Team zwar schwerer zu leiten, zugleich
aber vergrößert dies sein kreatives Potenzial erheblich. Wichtig
ist in jedem Fall, dass genügend Leute im Team sind, die sich die
Fähigkeit bewahrt haben, sich noch zu wundern, und nicht so "abgeklärt"
(oder abgestumpft) sind, dass sie den Status Quo für normal und unabänderlich halten ("Das ist einfach so!"). |
Heterogenität fördert
kreative Hypothesen |
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Im Offenlegen und Überprüfen der unterschiedlichen Sichtweisen
liegt auch der Ansatz, wie man interne Teams trotz aller anfänglichen
Widerstände für eine sorgfältige Bestandsaufnahme gewinnen kann.
Denn im Zweifelsfall haben zwar alle ein klares Bild davon, wo der Hase im Pfeffer liegt, aber jeder hat ein anderes Bild davon. Deshalb hat meistens auch jedes einzelne Teammitglied eine andere
Meinung, wo es hakt und was man tun könnte,
um es zu verändern. Wenn Sie die Teammitglieder also dazu bringen,
genauer zu beschreiben, wie sie die Dinge sehen, wo sie die Probleme lokalisieren
und welche Ansatzpunkte für Lösungen sie im Kopf haben, wird daraus
fast zwangsläufig eine kontroverse Diskussion entstehen. |
Unterschiedliche Sichtweisen offenlegen
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Der entscheidende Schritt ist nun, diesen Meinungsstreit (der so
auch in der Kantine stattfinden könnte, ohne irgendwelche Folgen
zu haben) in empirisch überprüfbare Hypothesen zu übersetzen: "An welchen beobachtbaren Fakten ließe sich feststellen, ob Ihre Sichtweise richtig
ist?" oder auch: "Welche Fakten dürften nicht oder nur sehr selten
anzutreffen sein, wenn Ihre Sichtweise richtig ist?" Auf diese Weise
entsteht aus der Diskussion, ob eine Bestandsaufnahme überhaupt
erforderlich ist, unmerklich das Konzept für ihre Durchführung. |
Von Sichtweisen zu
Hypothesen |
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Grundstrategie einer guten Bestandsaufnahme |
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1. Erst mal schauen, was los ist ("Realität erkunden") |
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Mit den Leuten reden / unterschiedliche Perspektiven
kennen lernen |
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2. Aus Beobachtungen / Hinweisen Ideen über Zusammenhänge
ableiten ("Hypothesen entwickeln")
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Nicht Lösungsideen, sondern Verstehen des
Problems |
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Diskutieren, streiten, Sichtweisen gegenüberstellen
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3. Schauen, ob die Ideen stimmen ("Hypothesen
testen")
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Überprüfbare Vorhersagen aus Hypothesen ableiten |
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Der Realität eine faire Chance gegen die eigenen
Theorien geben!
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4. Erklärungen ableiten ("Systemverständnis entwickeln")
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Bei Eintreffen der Vorhersagen sind die Hypothesen
wahrscheinlich richtig |
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Bei Nichteintreffen der Vorhersagen Ansatzpunkte
für neue Ideen / Zusammenhänge
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5. Beobachtungen, Befunde und Erklärungen aufbereiten
("Präsentieren")
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© 2002
Winfried Berner / letzte Revision 21.10.2107 – vollständige oder auszugsweise Wiedergabe, gleich in welcher Form, honorarpflichtig und nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung / Zitate im üblichen Umfang mit Quellenangabe gemäß wiss. Zitationsregeln zulässig. Näheres siehe Nutzungsbedingungen. |
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