Die Umsetzungsberatung

HR im Change Management

Vorgesetztenbeurteilung und 360-Grad-Feedback: Der Fluch der Anonymität

 

Meine ursprüngliche Sympathie für anonyme Vorgesetztenbeurteilungen hat sich deutlich relativiert, seit ich einige Male erlebt habe, in welch beinahe ausweglosen Kommunikationsfallen sie führen können. Zum größten Problem wird dabei oft genau das, was viele für die größte Stärke solcher Verfahren halten: die Anonymität. Solange das Feedback positiv ausfällt, ist das unkritisch – aber in diesem Fall bringt die Anonymität auch wenig Nutzen, denn die gute Nachricht hätten die Mitarbeiter ihrem Chef auch offen überbringen können. Auch die Besprechung einzelner kritischer Punkte in einem insgesamt positiven Bild erfordert in der Regel nicht den Schutz der Anonymität. Zum Problem wird die Anonymität ausgerechnet dann, wenn sie am wichtigsten wäre, nämlich dann, wenn es um ein kritisches oder sogar extrem kritisches Feedback geht. Denn dann ermöglicht die anonyme Erhebung, gleich ob sie mündlich oder schriftlich erfolgt ist, zwar die Feststellung von Problemen, aber zugleich erschwert sie deren Bearbeitung und Lösung.

  • Anonymität als Falle
  • Ein Beispiel: Im Coaching sprach ein junger Manager ein Thema an, das ihm sehr zu schaffen machte. Er hatte insgesamt ein sehr positives Feedback erhalten, nur im Punkt "Vertrauenswürdigkeit" zeigte die Auswertung, dass zwei Mitarbeiter im Gegensatz zu allen übrigen sehr negativ geurteilt hatten. Seine Schlussfolgerung war ebenso klar wie treffend: "Offenbar habe ich da etwas gemacht, was diese beiden als Vertrauensbruch empfunden haben." Er hatte nur keinerlei Idee, gegenüber wem das gewesen sein könnte. ZUgleich wusste er, dass er dringend mit den beiden reden musste, um zu sehen, wie sich das ausräumen ließ. Es lag also nahe, im Zusammenhang mit der Feedback-Runde einen Appell an die Mitarbeiter zu richten, dass die beiden sich doch bitte an ihn wenden sollten. Da in diesem Falle der Betriebsrat größten Wert auf Anonymität legte, kamen wir zu dem Ergebnis, dass er diesen Schritt mit diesem Gremium abstimmen sollte. Wir rechneten fest damit, dass dessen Zustimmung nur eine Formsache war. Doch obwohl der Betriebsrat den Punkt in der Sache einsah, war er nicht bereit, dies zu akzeptieren, weil eine starke Minderheit Angst vor einer "Durchlöcherung" der Anonymität hatte. Nun saß der Vorgesetzte da mit seinem "Führungsfeedback", wusste, dass eine gravierende Belastung in der Beziehung zu zweien seiner Mitarbeiter gab – und hatte buchstäblich keine Möglichkeit, etwas zur Verbesserung der Situation zu tun.

  • Dringender Gesprächs-bedarf – aber mit wem?
  • Überforderung auf allen Seiten

     

    Ein zweites Beispiel: Bei der 360-Grad-Beurteilung in der Hauptverwaltung eines internationalen Konzerns hatte einer der Konzernabteilungsleiter eine verheerend schlechte Bewertung erhalten. Seine Mitarbeiter zeigten zwar durchaus Respekt vor seiner Kompetenz und Integrität, doch waren sie zutiefst frustriert darüber, dass er ihnen kaum Freiräume ließ, praktisch keine Vorlage ohne umfangreiche Korrekturen und Überarbeitungen passieren ließ und auch ansonsten durch große Pingeligkeit und Detailverliebtheit auffiel.

  • Verheerende Beurteilung
  • Im Feedback-Gespräch unter vier Augen zeigte sich der Vorgesetzte betroffen und erschrocken: Er habe zwar gewusst, dass er seine Mitarbeiter zuweilen durch seine hohen Qualitätsansprüche frustriere, doch habe er nicht geahnt, welches Ausmaß diese Frustration angenommen hatte. Zugleich war er ratlos, wie er dem Problem abhelfen solle: Da in seiner Abteilung die Vorlagen für den Konzernvorstand sowie den Aufsichtsrat erstellt wurden, sah er keine Möglichkeit, Abstriche bei der Qualität zu machen und den Mitarbeitern die Chance zu geben, ihre eigenen Erfahrungen zu machen. Wir einigten uns darauf, dieses Dilemma zum Gegenstand des Feedback-Workshops mit den Mitarbeitern zu machen.

  • Hoffnung auf eine klärende Diskussion
  • Der Workshop begann in einer angespannten Atmosphäre. Offensichtlich wussten oder ahnten die Mitarbeiter, dass das Feedback in einigen Punkten äußerst negativ ausgefallen war, und sahen mit einigem Unbehagen den Moment auf sich zukommen, wo der Moderator sie dazu auffordern würde, ihre negativen Beurteilungen zu erläutern und mit Beispielen zu hinterlegen. Doch als das Gesamtbild dann an die Wand projiziert wurde, waren sie vollends schockiert, wie negativ es in zentralen Punkten ausgefallen war. Offensichtlich hatten etliche Mitarbeiter die Anonymität der 360-Grad-Beurteilung dazu genutzt, "Dampf abzulassen" – aber sie hatten nicht damit gerechnet, dass ihre Kollegen dies auch tun würden und dass daraus in Summe ein katastrophales Bild entstehen würde.

  • Angespannte Atmosphäre
  • Als die unvermeidliche Bitte um Erläuterungen und Beispiele kam, entstand ein langes, quälendes Schweigen. Schließlich nutze einer der älteren Mitarbeiter die Stille für einen beherzten Schritt, die eigene Haut zu retten, wenn auch zu Lasten der Kollegen. Er erklärte, er könne sich überhaupt nicht erklären, wie solch ein negatives Bild entstanden sein könne. Er persönlich habe den Vorgesetzten jedenfalls ganz anders und sehr viel besser beurteilt. Reaktionsschnell nutzte ein zweiter die Gelegenheit und schloss sich dieser Aussage "zu hundert Prozent" an. Doch bevor daraus eine Massenbewegung werden könnte, schaltete sich der Moderator ein und merkte an, umso negativer müssten dann wohl die übrigen Kollegen geurteilt haben, denn in Summe sei ja der errechnete Durchschnittswert herausgekommen. Mühsam rang sich die Gruppe daraufhin einige Erläuterungen, Beispiele und Verbesserungsvorschläge ab, doch eine befreiende Klärung kam ebenso wenig zustande wie eine ernsthafte Diskussion über die Problemlage oder über reale Verbesserungsmöglichkeiten.

  • Peinlichkeit statt Durchbruch
  • Komplikationen ausgerechnet bei den schwierigen Fällen

     

    Die Beispiele sind keine Einzelfälle. Vielmehr verfehlen anonyme Vorgesetztenbeurteilungen und 360-Grad-Feedbacks oft ausgerechnet dort ihr Ziel, wo sie eigentlich am dringendsten benötigt würden, nämlich dort, wo es gravierende Führungsprobleme gibt. Das hat wohl vor allem drei Gründe:

  • Drei Probleme
  • Erstens gibt es einen unauflösbaren Widerspruch zwischen Anonymität und einer Konfliktklärung: Um einen Reibungspunkt tatsächlich auszuräumen, genügt es nun einmal nicht, Punktwerte auf ein paar Skalen anzukreuzen, sondern es ist nötig und unausweichlich, Farbe zu bekennen: Zu erläutern, wo die Gründe der Unzufriedenheit liegen, zu klären, welche unterschiedlichen Sichtweisen oder Erwartungen im Spiel sind, und festzulegen, wie mit dem Problemfeld künftig umgegangen werden soll.

  • Konfliktklärung geht nicht anonym
  • Da ein klärendes Gespräch nun einmal schlecht anonym möglich ist, kommt in jeder Vorgesetztenbeurteilung, in jedem Führungsfeedback und in jeder 360-Grad-Beurteillung unausweichlich der Punkt, wo die Anonymität mindestens teilweise aufgehoben und miteinander gesprochen werden muss. Und das ist aus naheliegenden Gründen umso schwieriger, je gravierender die betreffenden Punkte sind – und je weniger über sie bislang offen gesprochen worden ist. Denn dafür gab es ja im Zweifelsfall Gründe. Je "happiger" die Befunde ausgefallen sind, desto größer ist einerseits der Klärungs- und Erläuterungsbedarf, andererseits ist es gerade dann für die Mitarbeiter sehr schwierig, sich zu den anonym gemachten Aussagen zu bekennen.

  • Ein Gespräch erfordert, Farbe zu bekennen
  • Zweitens: Die vorausgegangene anonyme Abfrage erleichtert das Gespräch nicht unbedingt; in vielen Fällen erschwert sie es sogar erheblich. Nur bei "mittelschweren" Problemen ist es unter Umständen von Vorteil, wenn die Präsentation einer anonymen Abfrage den Mitarbeitern die Entscheidung abnimmt, ob sie die kritischen Punkte tatsächlich zur Sprache bringen oder ob sie sich weiter, wie bisher, davor drücken wollen. In solchen Fällen wird die Offenlegung der Befunde oft mit einer gewissen Erleichterung registriert, und das Gespräch kann beginnen.

  • Anonyme Abfrage erschwert Gespräche
  • In wirklich schwerwiegenden Fällen hingegen gelingt dies selten: Zu groß sind der Druck und die Anspannung, die, wie in unserem Beispiel, auf allen Beteiligten lasten. Vor allem bei Vorgesetzten, die als autoritär, unberechenbar oder nachtragend gelten, haben viele Mitarbeiter schlicht Angst, Farbe zu bekennen; umgekehrt befürchten die Vorgesetzten zuweilen, durch zuviel Öffnung ihre Führungsautorität noch weiter zu gefährden. Dies erzeugt ein Klima, das von in Lähmung, Fluchttendenzen und äußerster Zurückhaltung geprägt ist: "Besser gar nichts sagen als etwas Falsches ..."

  • Viel Angst und Druck
  • Racheakte, Erpressung und Entmutigung

     

    Was die Sache zusätzlich erschwert, ist, dass die vorausgehende Abfrage gerade in den schweren Fällen oft zu einer ungewollten Dramatisierung der Probleme führt: Je mehr die Mitarbeiter unter der Führung leiden, desto mehr neigen sie dazu, die anonyme Vorgesetztenbeurteilung als Überdruckventil für ihre Frustration zu nutzen. Das heißt, sie hauen bei den Bewertungen richtig hinein und zeichnen die Lage in ihren Antworten noch drastischer als sie sie empfinden. Womit sie in aller Regel nicht rechnen, ist, dass ihre Kollegen das Gleiche tun – und dass sich daraus in Summe ein Bild ergibt, das die ohnehin schwierige Situation noch dramatisch überzeichnet, in krassen Fällen bis zu einem völligen Zerrbild der Realität.

  • Kollektives Dampf ablassen
  • Wenn die Auswertung der anonymen Abfrage dann präsentiert wird, sind sowohl der Vorgesetzte als auch die Mitarbeiter schockiert über das Resultat und können sich gar nicht vorstellen, dass die Situation tatsächlich so schlimm ist. Da sie nicht erkennen, dass das Ergebnis lediglich die Summe ihrer individuellen Übertreibungen ist, zweifeln sie zuweilen die Auswertung an und unterstellen Rechenfehler, wenn nicht gar böse Absicht. Doch eine Überprüfung erbringt in aller Regel, dass die Berechnung fehlerfrei ist. Angesichts der Wucht der Resultate sind oft sowohl die Vorgesetzten als auch die Mitarbeiter (als auch die Moderatoren) überfordert, das verheerende Feedback konstruktiv aufzuarbeiten. Wobei der Moderator da noch am besten dran ist: Er kann sich am Ende des "schwierigen Workshops" von dannen machen, während die Betroffenen mit dem angerichteten Scherbenhaufen leben müssen.

  • Ungewollte Dramatisierung
  • Zum dritten öffnet anonymes Feedback unvermeidlich Tür und Tor für Racheakte und Intrigen. Es stellt ein Instrument bereit, seinen Chef unter dem Schutz der Anonymität mal so richtig in die Pfanne zu hauen. Natürlich hat es in der Regel einen Grund, wenn die Mitarbeiter ein Bedürfnis nach Rache und Vergeltung verspüren. Doch ist keineswegs gesagt, dass dieser Groll oder diese Empörung aus einen Fehlverhalten der Führungskraft resultiert – sie können im Gegenteil als Folge von sehr sinnvollem und notwendigen Führungshandeln entstanden sein. Beispielsweise dann, wenn der Vorgesetzte von verwöhnten Mitarbeitern eine angemessene Leistung eingefordert und dabei die nötige Konfliktfähigkeit bewiesen hat. Anonymes Feedback eröffnet in solchen Fällen beliebige Räume für versteckte Fouls, und es gibt Mitarbeitern sogar ein Erpressungspotenzial in die Hand. Die unausgesprochene (und manchmal sogar ausgesprochene) Drohung lautet: "Chef, wenn Sie unangenehm werden, sollten Sie sich nicht wundern, wenn wir unseren Unmut in der Vorgesetztenbeurteilung (oder der nächsten Mitarbeiterbefragung) zum Ausdruck bringen!"

  • Versteckte Racheakte und Intrigen
  • Dieses Erpressungspotenzial wird noch größer, wenn das Führungsfeedback von wohlmeinenden HR-Managern "intensiv nachgehalten" und zum Gegenstand besorgter Gespräche und nachdrücklicher Coaching-"Angebote" gemacht wird. Auf diese Weise schafft man ein Umfeld, in dem es auch für mutige und konfliktbereite Führungskräfte ratsam wird, bestimmte heiße Eisen besser nicht anzufassen. Es wäre zu viel Selbstverleugnung verlangt, wenn man erwarten würde, dass Führungskräfte sich konsequent mit chronischer Minderleistung, verwöhnten Einstellungen und ungerechtfertigten Ansprüchen auseinandersetzen, wenn sie sich dann in einem Zwei-Fronten-Krieg wiederfinden und nicht nur von den betroffenen Mitarbeitern Widerstand erfahren, sondern auch von oben bzw. aus dem Personalbereich Druck bekommen.

  • Erpressungs-potenzial

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  • Buch "Culture Change"
  • Notwendigkeit eines Teamentwicklungsprozesses

     

    Und schließlich muss man sich fragen, welches implizite Feedback man Mitarbeitern dadurch vermittelt, dass man sie bei Vorgesetztenbeurteilungen und 360-Grad-Feedbacks unter dem Schutz strikter Anonymität stellt. Wer andere beschützt, vermittelt ihnen damit ja seine Einschätzung, dass sie so schwach, wehrlos und verletzbar sind, dass sie des Schutzes bedürfen. Zwar müssen sich die solchermaßen unfreiwillig Beschützten diese Einschätzung nicht unbedingt zu eigen machen – etliche von ihnen werden vielleicht sogar ein ausgesprochen offenes Verhältnis zu ihren Vorgesetzten haben und ihnen ihr Feedback mit großer Offenheit und Deutlichkeit vermitteln.

  • Beschützen unterstellt eine reale Gefahr
  • Aber selbst diese selbstbewussten Mitarbeiter, und erst recht die vielen anderen, muss es doch nachdenklich stimmen, wenn ihnen Personalabteilung und Betriebsrat bei dem Führungsfeedback übereinstimmend größten Wert auf strengste Anonymität legen. Denn das lässt ja nur zwei Interpretationen zu, die beide nicht sonderlich ermutigend wären. Entweder lautet die Botschaft: Wir halten euch für so erbärmliche Feiglinge und Opportunisten, dass ihr eure wahre Meinung nur unter dem Schutz der Anonymität äußern werdet. Oder sie heißt: Eine offene Meinungsäußerung ist in unserem Hause gefährlich, dabei könnten denen, die so verwegen sind, sich mit offenem Visier zu äußern, furchtbare Dinge widerfahren. Oder dient die Dramatisierung der Gefahren am Ende nur dem Eigenmarketing der Beschützer: Was wäret ihr ohne uns?

  • Entmutigung durch Beschützen
  • Die Hoffnung, mangelnde Konfliktfähigkeit und eine fehlende Feedbackkultur durch den simplen Trick einer anonymen Abfrage beheben zu können, erweist sich in der Realität als trügerisch – gerade bei den schwierigen Fällen, die am meisten der Unterstützung bedürften. Stattdessen vergrößert die Anonymität in diesen Fällen das Problem, zu dessen Lösung sie beitragen sollte. Aber wen sollte das wundern? Im Grunde ist der Ansatz, mangelnde Offenheit und fehlendes Vertrauen durch ein soziotechnisches "Tool" beseitigen zu wollen, kaum weniger naiv und technokratisch als die Idee, Beziehungsprobleme medikamentös heilen zu wollen. Denn so funktionieren zwischenmenschliche Beziehungen nun einmal nicht. Am Ende ist es halt doch "soziale Arbeit", den versiegten Dialog zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten wieder in Gang zu bringen oder einen offenen Austausch, der noch niemals wirklich stattgefunden hat, zu initiieren.

  • Trügerische Hoffnung
  • Wenn die Beziehung zwischen Vorgesetztem und Mitarbeitern ernstlich belastet ist, ist eine wirkliche Verbesserung nur über einen längeren Prozess zu erreichen – und auch das nur dann, wenn beide Seiten (noch) dazu bereit sind, ihren Teil dazu beizutragen. Mit einmaligen Aktionen ist hier wenig zu wollen. Das gilt nicht nur für anonyme Abfragen, sondern es gilt auch für Feedback-Workshops, Kommunikationstrainings und Teambuilding-Events. Denn wenn das (persönliche) Vertrauen und/oder das (fachliche) Zutrauen angeknackst sind, dann können nur neue Erfahrungen in der Zusammenarbeit helfen, Gras über frühere schlechte Erfahrungen wachsen zu lassen. Und das braucht Zeit: Etliche Monate mindestens, zuweilen mehr.

  • Längerer Prozess
  • "Braucht Zeit" heißt dabei nicht abwarten, sondern sich dem Problem stellen und daran arbeiten. So wie die Verbesserung sportlicher Leistungen, wenn sich falsche Gewohnheiten eingeschliffen haben, nicht bloß des regelmäßigen Übens bedarf, sondern auch des Feedbacks und der Analyse, so ist eine regelmäßige Prozessreflexion unabdingbar für eine wirkliche Verbesserung. Gerade weil im Alltag viele Dinge unausgesprochen bleiben, erst recht, wenn die Beziehung belastet und von wechselseitigen Enttäuschungen bestimmt ist, ist es wichtig, regelmäßige Gelegenheiten zu schaffen, bei denen der Teppich des Schweigens wenigsten ein bisschen angehoben wird. Denn nur dann können die Beteiligten untereinander abklären, ob sie auf einem guten oder auf einem schlechten Weg sind – oder ob sie auf niedrigem Niveau stagnieren.

  • Regelmäßige Prozessreflexion
  • Ein langwieriger Prozess

     

    Dieser Dialog wird zunächst oft nur sehr vorsichtig und verhalten sein. Nur wenn noch ein "heißer Konflikt" besteht, darf man einen temperamentvollen Verlauf entsprechender Workshops erwarten, der auch von einem hohen Grad von Offenheit geprägt ist. Je mehr der Konflikt hingegen bereits "erkaltet" ist und sich verfestigt hat, desto reservierter und taktischer werden sich die meisten Beteiligten verhalten. Am schwierigsten ist eine Beziehungsverbesserung, wenn das Klima von Angst geprägt ist, weil die Mitarbeiter offene oder verdeckte Sanktionen ihres Vorgesetzten befürchten für den Fall, dass sie ihre wahre Meinung äußern sollten.

  • Vorsichtiges Taktieren
  • Hier kommt das "Hundebiss-Syndrom" zur Wirkung: Wer einmal von einem Hund gebissen wurde, ist nicht dadurch zu beruhigen, dass danach mehrere Begegnungen mit Hunden ohne Bissverletzung ausgingen. Ebenso wenig beruhigt es Mitarbeiter, die schlechte Erfahrungen mit ihrem Chef gemacht haben, wenn sie nach einem (relativ) offenen Workshop zehn- oder auch hundertmal keine negativen Erfahrungen machen; das alleine kann und wird das Vertrauen nicht wiederherstellen.

  • Das Hundebiss-Syndrom
  • Es ist auch gar nicht unbedingt anstrebenswert, dass sich die Teammitglieder sehr rasch und weitgehend öffnen, deshalb sollte eine solche Öffnung auch von einem externen Moderator oder Teamentwickler nicht forciert werden. Zu leicht könnte dabei eine Situation entstehen, in der einige der Beteiligten von der plötzlichen Öffnung überfordert sind, während andere spätestens in der Nacht nach dem Workshop bereuen, sich so weit geöffnet zu haben, und Sorge haben, sich um Kopf und Kragen geredet zu haben. Auch für viele Vorgesetzte, die sich anfangs durchaus offen auf den Prozess einlassen, ist irgendwann der Punkt erreicht, an dem es ihnen zu viel wird, und ab dem sie dann entweder "zumachen" oder aggressiv reagieren.

  • Behutsame Öffnung
  • Das muss sich nicht unbedingt im Workshop selbst auswirken, wo der Moderator den Prozess steuert und allen Beteiligten als Garant für einen fairen Umgang dient. Schwierig wird es unter Umständen in den Tagen und Wochen danach, wo die Beteiligten ohne Prozessbegleitung mit ihrer Verunsicherung und ihren Ängsten und Hoffnungen umgehen müssen. Da ist es meist besser, wenn Vertrauen und Öffnung langsam und schrittweise wachsen: Eine vorsichtige Öffnung ermöglicht es dem Vorgesetzten, sich des Vertrauens würdig zu erweisen (oder auch nicht); umgekehrt kann ein kleiner Zuwachs an Vertrauen auch den Mut zu etwas mehr Offenheit machen.

  • Spätfolgen und Nachwirkungen
  • Wie man sieht, ist eine Beziehungsverbesserung ein langer und mühsamer Prozess, und zwar umso mehr, je schlechter die Beziehung derzeit ist und je länger der gegenwärtige Zustand bereits vorhält. Er kann nur dann gelingen, wenn sowohl der Vorgesetzte als auch die Mitarbeiter ihn wirklich wollen – was sich nicht an ihren Worten zeigt, sondern allein daran, ob sie bereit sind, ihren persönlichen "Preis" zu bezahlen und etwas an ihrem eigenen Verhalten zu ändern. Für diesen Entwicklungsprozess gibt es keinen "Turbobooster" – daher ist es kein wirkliches Wunder, wenn auch Vorgesetztenbeurteilungen keine schnelle Lösung bringen und sie erst recht nicht erzwingen können.

  • Bereitschaft, den Preis zu bezahlen
  • Lohnt sich der ganze Aufwand überhaupt?

     

    Aus Managementsicht kann man durchaus fragen, ob sich der ganze Aufwand überhaupt lohnt, zumal der Erfolg offensichtlich an so schwer prognostizierbare Bedingungen geknüpft ist wie an die tatsächliche Bereitschaft der Beteiligten zu einer Verhaltensänderung. Sollte man da nicht besser gleich personelle Konsequenzen ziehen, wenn die Führung irgendwo wirklich im Argen liegt, und entweder den Vorgesetzten oder einzelne Mitarbeiter austauschen? Es ist leider nicht ganz einfach, auf diese Frage eine klare Antwort zu geben. Zwar ist die Erfolgswahrscheinlichkeit von Teamentwicklungsmaßnahmen besser als die von Fusionen und Übernahmen; dennoch ist sie sicher weit von 100 Prozent entfernt.

  • Alternative: Austausch
  • Je verfahrener die Situation ist, desto mehr ist daher der Austausch einzelner Personen mehr als nur eine theoretische Option. Vor jeder Einleitung von Teamentwicklungsmaßnahmen, Coachings und ähnlichem ist daher die Frage zu beantworten, ob die Situation unter den gegebenen Umständen überhaupt zu heilen ist. Wenn nicht, wäre ein Teamentwicklungsprozess, ganz abgesehen von den Kosten, nur eine nutzlose Quälerei für alle Beteiligten. Dass es gelingen kann, ist zum Beispiel dann eher fraglich, wenn dem Vorgesetzten bestimmte fachliche oder persönliche Fähigkeiten fehlen, die er bräuchte, um dieses Team erfolgreich führen zu können. Selbst wenn man ihm prinzipiell zutraut, diese Fähigkeiten zu erlernen, muss geklärt werden, ob es realistisch ist, dass er es in dem derzeitigen belasteten Klima erlernen kann. Negativ ist die Prognose auch dann, wenn die Beziehungen zwischen einzelnen Personen so zerrüttet sind, dass sie überhaupt nicht mehr bereit oder in der Lage sind, sich gegenseitig eine neue Chance zu geben. Auch in diesem Fall ist es besser, wenn das Management einen sofortigen Schlussstrich zieht.

  • Beurteilung der Erfolgschancen
  • Doch auch andersherum wird ein Schuh daraus. Denn die Prognose für den Erfolg eines Teamentwicklungsprozesses ist keineswegs unabhängig davon, welche Position das Management zu dem bestehenden Problem zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern einnimmt. Wenn es sich weitgehend aus der Sache heraushält ("Hier habt ihr ein Budget, und nun wünschen wir euch viel Erfolg!"), ist die Prognose deutlich schlechter als wenn das Management deutlich macht, dass es auf die Dauer nicht hinnehmen wird, wenn die Beteiligten hier zu Lasten der Firma einen Privatkrieg ausfechten. Es ist daher sehr förderlich für die Kompromissfindung, wenn das Management in aller Deutlichkeit eine Ansage macht wie etwa: "Sie haben zwei Monate Zeit, sich zusammenzuraufen. Falls das wider Erwarten nicht gelingen sollte, werden wir eine Entscheidung treffen, denn wir werden auf die Dauer nicht hinnehmen, dass Sie hier zu Lasten der Firma Reibungsverluste ohne Ende erzeugen."

  • Klärung einfordern
  • Natürlich macht das Druck, doch das ist erstens legitim, da durch solche Konflikte ja wirklich die Firma geschädigt wird, und zweitens nach meiner Erfahrung förderlich. Denn wenn sie wissen, dass das für sie persönlich schlecht ausgehen kann, neigen alle Beteiligten erfahrungsgemäß sehr viel weniger dazu, sich in Trotzpositionen einzumauern oder unerfüllbare Forderungen zu stellen. Allerdings darf dabei nicht allein der Vorgesetzte zur Disposition gestellt werden, sonst wäre der im weiteren Verlauf auf Gedeih und Verderb der Gnade seiner Mitarbeiter ausgeliefert und damit beliebig erpressbar. Vielmehr sollte deutlich werden, dass das Management von allen Beteiligten erwartet, ihren Beitrag zu einer besseren Zusammenarbeit zu leisten, und dass es von niemandem akzeptieren wird, dass er sich dem entzieht. Wenn das nicht bloß eine leere Drohung sein soll, die letztlich nur die eigene Glaubwürdigkeit in Gefahr bringt, tut das Management gut daran, gedanklich schon einmal seine Handlungsoptionen für den Fall durchzuspielen, dass es nicht zu einer Verbesserung kommt. Je klarer sein Plan B ist, desto mehr Entschiedenheit strahlt es aus – und desto wahrscheinlicher ist, dass sich das Team tatsächlich zusammenrauft, sodass diese Option letztendlich nicht zum Tragen kommen muss.

  • Druck fördert Kompromiss-bereitschaft

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