Die Umsetzungsberatung

Eine Veränderungsstrategie entwickeln

Bremser und Blockierer: Wie Sie die "Lähmschicht" auf Trab bringen (und wie nicht)

 

Winfried Berner, Die Umsetzungsberatung

Vorstände und Geschäftsführer zählen gemeinhin nicht zu den geduldigsten Menschen, und wenn es mit den von ihnen gewünschten Veränderungen nicht so recht vorangeht, lokalisieren sie das Problem gern bei den "Bremern und Blockierern" im mittleren Management. Die Mitarbeiter wären durchaus veränderungsbereit, lautet ein gängiges Erklärungsmodell; das eigentliche Problem liege bei der "Lähmschicht" in der Mitte.

  • Zuschreibung des Problems
  • Der Charme dieser Diagnose ist, dass man damit einen klaren Schuldigen hat – und auf diese Weise selbst aus dem Schneider ist: Man selbst tut ja alles Menschenmögliche, um die notwendigen Veränderungen voranzubringen, doch leider scheitert alles an diesen ewigen Bremsern und Blockierern. Doch wann immer die Unterteilung zwischen "Guten" und "Bösen" so klar und eindeutig ist, sind Zweifel angebracht, und ein sorgfältiger zweiter Blick ist ratsam. Zumal diese Diagnose implizit bereits suggeriert, in welcher Richtung die Lösung liegt: Irgendwie muss es gelingen, die "Lähmschicht" zu durchbrechen und diesen elenden Bremsern und Blockierern Dampf zu machen.

  • Ein klarer Schuldiger (sonst lauter Unschuldige)
  • Ärger, Zorn und Wut führen in den Machtkampf

     

    Zu den Risiken und Nebenwirkungen dieser Diagnose zählt, dass sie Emotionen auslöst – und zwar solche, die geradezu optimal ungeeignet sind, um einen erfolgreichen Change-Prozess anzuführen: Zum einen ein Gefühl von Ohnmacht, weil man die geplanten Veränderungen nicht durchsetzen kann, zum anderen Ärger, Zorn und Wut. Da sich das Gefühl der Ohnmacht aber sehr schlecht mit dem Selbstverständnis von Top-Managern verträgt, verlegen sie sich umso mehr auf Ärger und Wut und steigern sich oft immer mehr in sie hinein: Eine völlig inakzeptable Einstellung sei das, was die mittleren Führungskräfte hier an den Tag legten – "eigentlich müsste man sie alle hinausschmeißen!"

  • Ärger, Zorn und Wut
  • Die biologische Funktion von Ärger, Zorn und Wut ist, uns sowohl mental als auch physiologisch in Kampfbereitschaft zu bringen: Ärger als mildeste Stufe motiviert uns dazu, unseren Unmut deutlich zum Ausdruck zu bringen, also zum Beispiel zu schimpfen, zu toben und zu attackieren. Zorn geht ein Stück weiter und legt uns nahe, den Urheber unseres Grimms "zur Schnecke zu machen", ihn also aus einer dominanten Position heraus klein zu machen und einzuschüchtern ("zusammenzufalten"). Wut schließlich motiviert nur noch zum physischen oder verbalen Dreinschlagen. Der biologische Sinn und Nutzen dieser Emotionen ist, die eigene Interessenssphäre zu wahren und die eigenen Vorstellungen durchzusetzen, doch zuweilen kann das auch nach hinten losgehen.

  • Biologische Funktion der Emotionen
  • Ärger, Zorn und Wut zählen allesamt zu der Gruppe von Gefühlen, die man in der Individualpsychologie als "trennende Gefühle" bezeichnet: Sie bringen uns in eine Gegenposition zu anderen Menschen und fokussieren unsere Gedanken und unsere Energie darauf, wie wir sie besiegen, bestrafen oder in die gewünschte Richtung zwingen könnten. (In unserer amerikanisch geprägten Umgangssprache ist häufig, aber ungenau von "negativen Gefühlen" die Rede – als ob uns die Natur irrtümlich auch mit unbrauchbaren Gefühlen ausgestattet hätte. Aber natürlich haben auch diese "negativen" Gefühle eine nützliche adaptive Funktion: Wer weder Ärger noch Wut kennt, würde leicht zum Opfer von Ausbeutung.)

  • "Trennende Gefühle"
  • Gefühle kanalisieren unser Denken und mobilisieren unsere Energie. Beispielsweise motiviert uns Angst dazu, uns in Sicherheit zu bringen. Ärger, Zorn und Wut lenken unser Denken zwangsläufig in die Richtung: Wie können wir, die "Guten", vorgehen, um diese Bremser und Blockierer in ihre Schranken zu verweisen und sie dazu zwingen, sich letztlich doch in die gewünschte Richtung zu bewegen? Was wäre eine clevere Strategie, sie zu besiegen oder wenigstens mattzusetzen? Auf diese Weise führen die trennenden Gefühle beinahe zwangsläufig in eine Polarisierung und steuern entweder auf eine ruppige Durchsetzung oder auf einen Machtkampf zu.

  • Polarisierung und Machtkampf
  • Wenn sie sich in ihrem Vorwärtsdrang durch Bremser und Blockierer aufgehalten fühlen, kommen Manager dann beispielsweise auf die Idee, die Mitarbeiter zu aktivieren, um die unwilligen mitteren Führungskräfte sozusagen von oben und unten in die Zange zu nehmen. Sie denken dann etwa darüber nach, ein Projekt mit "jungen Wilden" zu besetzen, also mit ambitionierten Nachwuchskräften, um "den alten Fürsten endlich einmal Feuer unter dem Hintern zu machen". Oder sie wünschen sich eine Großgruppenkonferenz, in der die Mitarbeiter eine Bestandsaufnahme der derzeitigen inneren Verfassung des Unternehmens machen und daraus Aufträge an das Management ableiten sollen.

  • Ideen, das mittlere Management unter Druck zu setzen
  • Nicht unbedacht einen Machtkampf vom Zaun brechen

     

    Machtkämpfe sind im Change Management nicht immer zu vermeiden, und man sollte sie auch nicht um jeden Preis vermeiden. Wenn es hart auf hart geht, kann unter Umständen ein Machtkampf notwendig sein, um Veränderungen auch gegen verbissene Widerstände durchzusetzen. Wegen ihrer unvermeidlichen "Kollateralschäden" sollte man Machtkämpfe allerdings auf die Fälle beschränken, in denen sie erstens unvermeidlich sind – und in denen man zweitens gute Chancen hat, sie zu gewinnen. Unbedingt vermeiden sollte man hingegen, um die eigene Position nicht zu schwächen, Machtkämpfe, die man verliert. Deshalb ist es äußerst unklug, sich aus bloßer Verärgerung unüberlegt und ohne eine durchdachte Strategie auf einen Machtkampf einzulassen.

  • Machtkämpfe nicht um jeden Preis vermeiden
  • Das doppelte Problem an Durchsetzungsversuchen wie den oben genannten ist, dass sie erstens unnötig einen Machtkampf heraufbeschwören, den das Management zweitens – aus macchiavellistischer Sicht unverzeihlich! – mit hoher Wahrscheinlichkeit verlieren wird. Unnötig ist der Machtkampf, solange längst nicht alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, die mittleren Führungskräfte von dem bestehenden Veränderungsbedarf zu überzeugen und sie so ins Boot zu holen. Da ein Machtkampf immer Verlierer und offene Rechnungen hinterlässt, sind unnötige Machtkämpfe mehr als eine lässliche Sünde.

  • Kein Machtkampf ohne Not …
  • Noch unverzeihlicher ist aber, einen Machtkampf anzuzetteln ohne eine Durchsetzungsstrategie, die wirklich zu Ende gedacht ist. Denn ein Projekt mit den jungen Wilden bzw. eine Großgruppenkonferenz ist ja nur der erste Spielzug. Und bei genauerem Hinsehen ist durchaus nicht klar, warum sie das mittlere Management so sehr unter Druck setzen sollten, dass es sich nolens-volens in das Unvermeidliche fügen müsste.

  • … erst recht keiner ohne Strategie
  • Was zum Beispiel, wenn die mittleren Führungskräfte die Ergebnisse des Projekts bzw. der Großgruppenkonferenz ignorieren und ihre Arbeit einfach weitermachen wie bisher? Um nicht von den naheliegendsten Spielzügen des "Gegners" kalt erwischt zu werden, wäre das Mindeste, einen Plan zu haben, wie man in solch einem Fall weiter vorgehen würde, um die Sache zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Ausgesprochen dumm ist, wenn man erst dann merkt, dass man statt der "Gegner" sich selbst in Zugzwang gebracht hat – und dann einem kein guter zweiter Spielzug einfällt. Dann hätte man sowohl sich selbst als auch seinem Anliegen und seinen Verbündeten einen schlechten Dienst erwiesen.

  • Ein herrliches Eigentor
  • Wenn die Falschen unter Druck geraten

     

    Aller Voraussicht nach wird sich das mittlere Management nicht einfach geschlagen geben, wenn das Top-Management versucht, es zum Handeln zu zwingen. Vermutlich wird es sich gegen diesen unfreundlichen Akt mit dem ihm zu Verfügung stehenden Mitteln zur Wehr setzen – die Initiative des Top-Managements beispielsweise ins Leere laufen lassen, Widerstand durch Zustimmung praktizieren, vor allem aber die Tatsache nutzen, dass die allermeisten Mitarbeiter und Nachwuchskräfte, die das Top-Management "heiß gemacht" hat, nicht direkt an die Geschäftsleitung berichten, sondern an sie, die mittleren Führungskräfte.

  • Gegenwehr zu erwarten
  • Dabei brauchen sie sich gar nicht gegen die neu ausgerufenen Change-Projekte des Top-Managements stellen – und werden das, wenn sie klug sind, auch nicht tun. Sie brauchen nur im Tagesgeschäft ein bisschen die Daumenschrauben anziehen, indem sie die Betreffenden reichlich mit Aufgaben eindecken und auf deren pünktlicher Erledigung bestehen. Dies lässt sich in vollendeter Scheinheiligkeit als Doppelbindung ausgestalten: "Ich finde es super, dass Sie so engagiert an diesen wichtigen Projekten des Vorstands mitarbeiten. Aber das Tagesgeschäft darf darunter natürlich nicht leiden."

  • Daumenschrauben anziehen
  • Der Einwand, der Vorstand habe ausdrücklich darum gebeten, die Mitstreiter des Projekts vom Tagesgeschäft zu entlasten, lässt sich mühelos kontern: "Der Vorstand hat leicht reden, denn den Ärger, wenn die Arbeit liegenbleibt, bekommt nicht er, sondern ich. Am Ende des Tages werde ich daran gemessen, dass ich mit meiner Abteilung meine Aufgaben erledigt bekomme. Also muss ich Sie daran messen, dass Sie die Ihrigen erledigen." Und bei weiterem Insistieren: "Wenn der Vorstand möchte, dass ich Sie freistelle, muss er mir einen geigneten Ersatz zu Verfügung stellen. Solange ich den nicht bekomme, kann ich leider nichts machen. Sie wissen ja selbst, wie dünn unsere Personaldecke hier ist."

  • (Erhöhte) Anforderungen des Tagesgeschäfts
  • Diesem Druck werden die meisten Nachwuchskräfte nicht lange standhalten. In hartnäckigen Fällen hilft der Hinweis, es würde sich bei Beförderungen nicht gut machen, wenn in der Leistungsbeurteilung etwas von Vernachlässigung des Tagesgeschäfts stünde. Zwar ist natürlich die Frage, ob der Vorgesetzte tatsächlich so weit gehen würde, dies in die Beurteilung zu schreiben, und ob man sich darüber nicht beim Vorstand oder bei der Personalabteilung beschweren könnte. Doch darauf werden es die Mitarbeiter in der Regel nicht ankommen lassen, zumal sie es sich ja nicht auf Dauer mit ihrem direkten Vorgesetzten verderben wollen. Also fahren sie notgedrungen ihr Engagement im Projekt herunter.

  • Einknicken angesichts des Drucks
  • Kaum anders geht es, wenn das Top-Management die emotionale Dynamik einer Großgruppenkonferenz zu nutzen versucht, um die mittleren Ebenen in Zugzwang zu bringen. Wenn die die Nerven bewahren und nichts oder nur das Allernötigste tun, dann stellt sich die Frage, wer am meisten unter Druck kommt, wenn nach einem halben Jahr noch wenig geschehen ist. Die hohen Erwartungen, dass nun alles anders würde, hat schließlich das Top-Management geweckt, nicht die mitteren Führungskräfte, die schon immer gemahnt haben, über all den guten Ideen und neuen Baustellen die hohen Belastungen durch das Tagesgeschäft nicht zu vergessen. Die aufkommende Enttäuschung fällt letztlich nicht auf die mittleren Ebenen zurück, sondern auf das Top-Management.

  • Geweckte Erwartungen enttäuscht

  • Change! - 20 Fallstudien Zahlreiche Fallbeispiele zu den unterschiedlichsten Typen von Change-Projekten finden Sie in meinem Buch "Change! – 20 Fallstudien zu Sanierung, Turnaround, Prozessoptimierung, Reorganisation und Kulturveränderung" (Schäffer-Poeschel, 2. erweiterte Auflage 2015). Es vermittelt Ihnen einen breiten Überblick über die unterschiedlichsten Arten von Veränderungsprozessen und zeigt Ihnen, worauf es jeweils ankommt, um Ihre Change-Vorhaben zum Erfolg zu führen.

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  • Buch "Change!"
  • Der Job des mittleren Managements

     

    Um einen Machtkampf zu gewinnen, muss man es geschickter anstellen, und das beginnt damit, einen Plan zu haben, der deutlich über den ersten Spielzug hinausreicht. Doch bevor man einen Schlachtplan entwirft, lohnt es sich zu überlegen, ob überhaupt eine Schlacht erforderlich ist. Mutet es nicht eigentlich ein bisschen seltsam an, die mittleren Führungskräfte, die dem Unternehmen seit vielen Jahren treu dienen, nun plötzlich zum Feind des Unternehmens oder doch zumindest zum Gegner zu erklären, der besiegt werden muss?

  • Ist ein Machtkampf wirklich erforderlich?
  • Was haben diese Leute denn Böses getan, um sich diese unfreundliche, ja geradezu ehrenrührige Einstufung zu verdienen? Nun gut, sie waren nicht spontan begeistert, als der Vorstand oder die Geschäftsführung ein neues Change-Vorhaben ausgerufen und zur höchsten Priorität erklärt hat. Und möglicherweise ließen sie auch durch diverse Powerpoint-Präsentationen nicht davon überzeugen, nun plötzlich alles liegen und stehen zu lassen und sich voller Enthusiasmus den vom Management hervorgehobenen Veränderungsnotwendigkeiten zuzuwenden.

  • Mangelnder Enthusiamus – unentschuldbar?
  • An dieser Stelle ist es nützlich, sich bewusst zu machen, was die Rolle von mittleren Führungskräften eigentlich ist. Üblicherweise werden sie schlicht dafür eingestellt und bezahlt, dass sie den Laden am Laufen halten und sich darum kümmern, dass das Tagesgeschäft funktioniert. Es reicht daher nicht für eine Verurteilung, wenn sie genau dies tun – selbst wenn sie dabei eine gewisse Resistenz gegenüber gegen immer neuen Sonderwünschen, Zusatzthemen und Top-Prioritäten an den Tag legen. Hüter des Tagesgeschäfts zu sein, erfordert eben auch, der "langweiligen Routine" zu ihrem Recht zu verhelfen und das Tagesgeschäft abzuschirmen gegen alle möglichen Ablenkungen, die von oben, unten und von der Seite kommen.

  • Die Hüter des Tagesgeschäfts
  • Es mag durchaus sein, dass sie es damit zuweilen etwas übertreiben und wie wachsame Herdenschutzhunde nicht nur Raubtiere und streunende Hunde vertreiben, sondern auch den einen oder anderen Spaziergänger oder Postboten. Aber das ist noch kein Grund, sie explizit oder implizit zu Feinden des Unternehmens und seiner Zukunft zu erklären und zu einem internen Feldzug aufzurufen, um die beharrenden Kräfte mattzusetzen, die von ihnen ohne Zweifel, sozusagen kraft Amtes ausgehen.

  • … hüten es zuweilen ein bisschen zu sehr
  • Natürliche Spannung zwischen Top und Middle Management

     

    Das Top-Management und die mittleren Führungskräfte haben nun einmal unterschiedliche Rollen, und die stehen zuweilen in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander. Während die mittleren Ebenen die Verantwortung für das Tagesgeschäft haben und damit für das (optimierte) "Weiter-So" stehen, ist es der Job des Top-Managements, vorauszudenken und für eine Anpassung des Unternehmens an sich wandelnde Markt- und Wettbewerbsbedingungen zu sorgen. Dabei entstehen Reibungen: Typischerweise finden die mittleren Führungskräfte schnell, dass es mit den zusätzlichen neuen Themen zu viel wird und das Tagesgeschäft zu leiden beginnt, während das Top-Management der Meinung ist, dass notwendige Veränderungen nicht schnell genug angepackt und nicht mit der nötigen Konsequenz vorangetrieben werden.

  • Spannung zwischen Routine und Anpassung
  • Dieses "Managen der Routine" bringt die Führungskräfte zuweilen auch in eine gewisse Spannung zu ihren Mitarbeitern und insbesondere zu ambitionierten Nachwuchskräften. Denn denen wird die Routine manchmal zu viel, und sie sehnen sich nach ein bisschen Abwechlsung, und im Falle der Nachwuchskräfte meist auch nach der Chance, den höheren Ebenen zu zeigen, was in ihnen steckt. Deshalb ist es kein Zufall, wenn junge Mitarbeiter dem Top-Management oftmals viel veränderungsbereiter erscheinen als die mittleren Ebenen: Mit Routine kann man sich nicht profilieren, mit Sonderaufgaben und Zukunftsprojekten sehr wohl. Außerdem sorgen beide für ein bisschen Abwechslung im grauen Geschäftsalltag.

  • Spannung zu Mitarbeitern und Nachwuchskräften
  • Angesichts dieser prinzipiell sinnvollen Rollenverteilung zwischen den Hierarchieebenen ist es eigentlich ein unfaires Spiel, wenn sich das Top-Management mit den Mitarbeitern und Nachwuchsführungskräften verbündet, um die mittleren Ebenen in die Zange zu nehmen – außer, der Vorstand wollte das Tagesgeschäft und damit einen regelmäßigen Cashflow generell für überholt erklären. (Was in manchen Branchen durchaus gebräuchlich zu sein scheint, aber dennoch nur begrenzt zur Nachahmung empfohlen werden kann.)

  • Unfairer Zangengriff
  • Angesichts ihrer Verantwortung für das Tagesgeschäft und der inzwischen oft sehr hohen Arbeitsbelastung ihrer Abteilungen ist es durchaus verständlich und in Ordnung, wenn mittlere Führungskräfte auf neue Change-Initiativen nicht mit spontaner Begeisterung reagieren. Und dass sie sich angesichts der zahlreichen nicht abgeschlossenen Projekte, die es in den meisten Firmen gibt, nichts weniger wünschen als noch eine weitere Change-Initiative. Das heißt keineswegs, dass man sie überhaupt nicht erreichen kann – aber dafür muss man sie davon überzeugen, dass dieses neue Projekt wirklich unverzichtbar ist, und ihnen auch aufzeigen, wie die Ressourcen dafür freigemacht werden sollen. Denn viele mittlere Manager wissen oder ahnen, dass die 50-Prozent-Fiktion selten funktioniert.

  • Anfänglicher Widerstand ist nachvollziehbar
  • Gelegenheit zum Aufholen des Denkvorsprungs geben

     

    Weil das Top-Management sich mit Zukunftsfragen befasst (bzw. befassen sollte), ist es völlig normal, wenn es zuweilen einen Denkvorsprung vor den mittleren Führungsebenen hat. Wenn es aus seinen Überlegungen einen großen und dringenden Handlungsbedarf für das Unternehmen ableitet, ist seine Aufgabe nicht, dass mittlere Management auf Linie zu zwingen, sondern es zu überzeugen. Wer glaubt, dass das mit einer oder zwei routinemäßigen Folienpräsentation bei einer Führungstagung getan ist, der unterschätzt erheblich, wie lange andere Menschen (und vermutlich auch er selbst) brauchen, um aus abstrakten Analysen einen unmittelbaren Handlungsbedarf für sich selbst abzuleiten.

  • Überzeugende Vermittlung des Handlungsbedarfs
  • Andererseits ist es nachvollziehbar, dass das Top-Management, wenn es einen hohen Handlungsdruck verspürt, nun möglichst auf der Stelle einen allgemeinen Aufbruch zu den nötigen Veränderungen sehen möchte. Gerade deshalb ist es nützlich, um keine ebenso zeitraubenden wie kontraproduktiven Widerstände zu provozieren, sich bewusst zu machen, wie lange das oberste Führungsgremium selbst gebraucht hat, um diesen Handlungsbedarf zu erkennen und zu akzeptieren. Es gibt Ausnahmen, aber es wäre nicht ungewöhnlich, wenn bis dahin etliche Monate, wenn nicht Jahre, ins Land gegangen wären.

  • Erkenntnis von Handlungsbedarf braucht Zeit
  • Auch wenn dem Management die Fakten und Gründe aus heutiger Sicht als offensichtlich und absolut zwingend erscheinen, war es selbst vermutlich noch vor einigen Wochen noch nicht soweit, daraus die nötigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Deshalb ist es auf den zweiten Blick nicht so verwunderlich, wenn die mittleren Führungskräfte die präsentierten Fakten und Argumente zwar zur Kenntnis nehmen, aber keinerlei Anstalten machen, sofort alarmiert loszulaufen, um Change-Projekte zu initiieren und den ganzen Laden auf den Kopf zu stellen.

  • … im Vorstand wie auf Erden
  • Bei den operativen Führungskräften kommt ein zweites praktisches Hindernis hinzu: Sie sehen ihre knappen Ressourcen, sie sehen den Rückstau an unerledigter Arbeit, die zahlreichen anderen laufenden Projekte, die wegen Zeitmangel nicht vorwärts kommen, und gehen geradezu reflektorisch in Abwehrhaltung: "Sehen Sie denn nicht, dass es völlig unmöglich ist, jetzt noch ein weiteres Projekt zu starten, wo wir doch ohnehin mit vielen Dingen schon im Rückstand sind?!"

  • "Es geht einfach nicht!"
  • Natürlich ist die Aussage "Es geht einfach nicht!" kein logisches Argument und widerlegt in keiner Weise den vom Management angemeldeten Handlungsbedarf. Doch auf der anderen Seite folgt aus dem Handlungsbedarf auch nicht, dass die erforderlichen Ressourcen zu Verfügung stehen. Und die autoritäre Ansage "Das muss einfach gehen!" ignoriert das Problem nur, statt es zu lösen, und delegiert es nach unten.

  • Handlungsdruck schafft keine Ressourcen
  • Von den mittleren Führungskräften zu erwarten, dass sie das Tagesgeschäft einfach hintanstellen und voll spontaner Begeisterung auf den Zug der Veränderung aufspringen, heißt, von ihnen zu erwarten, dass sie den Job, für den sie bezahlt und an dem sie gemessen werden, nicht ernst nehmen. Der Streit, wie der Veränderungsbedarf und die Notwendigkeiten des Tagesgeschäfts unter einen Hut gebracht werden können, ist notwendig und muss von allen Beteiligten ausgehalten und durchgestanden werden. Und in vielen Fällen wird man hier Kompromisse finden müssen, die für keine Seite völlig zufriedenstellend sind. Denn hier geht es nicht darum, die richtige Lösung zu finden, sondern einen Ausgleich zwischen konkurrierenden Zielen herzustellen.

  • Ein echter Sachkonflikt
  • Nicht zwingen, motivieren

     

    Wer ohnehin schon am Anschlag ist, tut sich in der Regel schwer, zusätzlichen Handlungsbedarf zuzulassen, denn der wäre ja mit zusätzlicher Arbeit verbunden. Es ist menschlich verständlich, wenn auch nicht unbedingt zielführend, dass Führungskräfte in einer solchen Lage zuweilen dazu neigen, das Problem zu bestreiten, um es nicht auch noch lösen zu müssen. Diesen Widerstand zu verstehen, heißt nicht, sich mit ihm abzufinden: Das Top-Management muss hier mit freundlicher Beharrlichkeit darauf bestehen, dass das Problem erstens zur Kenntnis, zweitens ernst und drittens in Angriff genommen wird.

  • Verständliche Widerstände
  • Dabei sollte das Management die in solchen Fällen zuweilen einsetzende Panik der mittleren Führungskräfte nicht als Widerstand missverstehen, sondern den darin liegenden Hilferuf erkennen. Die dramatische Frage "Wie soll ich denn das auch noch …?" ist ernst gemeint und ernst zu nehmen. Parallel zur Vermittlung des Handlungsbedarfs muss daher frühzeitig eine Diskussion über eine Repriorisierung beginnen: Welche der heutigen Aufgaben lassen sich weglassen oder verschieben, um der neuen Top-Priorität die erforderlichen Ressourcen verschaffen, ohne dass das Tagesgeschäft abschmiert?

  • Repriorisierung erforderlich
  • Es ist wichtig zu sehen, dass es hier in der Regel keine voll befriedigende Lösung gibt und auch nicht geben kann. Denn wir haben es hier nicht mit einem Problem im klassischen Sinne zu tun, sondern mit einem Dilemma. Der Unterschied ist: Für Probleme gibt es Lösungen, und deshalb gilt es hier einfach, die richtige bzw. optimale zu finden. Bei einem Dilemma hingegen gibt es konkurrierende Ziele, von denen keines völlig ignoriert werden kann – und deshalb keine perfekte Lösung.

  • Kein Problem, sondern ein Dilemma
  • Deshalb gibt es hier immer nur Mittelwege und Kompromisse, die meistens irgendwie unbefriedigend sind. Man muss sich sozusagen zwischen den verschiedenen Zielen durchlavieren, um allen einigermaßen gerecht zu werden – was aber meistens auch bedeutet, dass man keinem wirklich voll gerecht wird. Deshalb ist das Gefühl, keine wirklich gute Lösung gefunden zu haben, sondern nur einen unbefriedigenden Kompromiss, in diesem Fall kein Warnsignal, sondern das charakteristische Kennzeichen für Dilemmata. Mit anderen Worten, dieses Gefühl ist kein Hinweis, dass man dabei ist, etwas falsch zu machen – es zeigt nur, dass man es gerade mit einem Dilemma zu tun hat, nicht mit einem Problem.

  • Für Dilemmata gibt es keine perfekte Lösung
  • Gemeinsam einen gangbaren Weg finden

     

    Trotzdem ist das Initiieren von Veränderungen oft mit einem Konflikt zwischen Top und Middle Management verbunden, gerade wenn die Arbeitsbelastung ohnehin schon hoch ist und die Führungskräfte der Meinung sind, dass ihre Bereiche "randvoll zu" sind. Wenn es nach ihnen ginge, würde man erst einmal gar nichts unternehmen und warten, bis wieder etwas mehr Luft ist. Doch bei allem Verständnis für ihre Situation kann sich das Top-Management darauf natürlich nicht einlassen: Es besteht ein Konflikt, der nicht einfach mit einer hoheitlichen Weisung entschieden werden kann, sondern im Dialog geklärt werden muss. Denn es ist ja nicht so, als ob deren Anliegen völlig unberechtigt seien.

  • Ein Konflikt, der geklärt werden muss
  • In solch einem Fall ist die erste und dringenste Aufgabe des Top-Managements, die operativen Führungskräfte davon zu überzeugen, dass der Handlungsbedarf tatsächlich besteht und dass er wirklich so dringend ist wie behauptet. Wenn die Führungskräfte das zögernd zugestehen, ist der nächste Schritt, gemeinsam zu klären, wie dies mit den Notwendigkeiten des Tagesgeschäfts – die ja ebenfalls weiter bestehen – sinnvoll in Einklang gebracht werden kann. Dabei ist die zweite Diskussion erst sinnvoll, wenn der Handlungsbedarf vom Grundsatz her akzeptiert ist. Trotzdem wird es einige Male hin und her gehen, weil wir Menschen nicht so logisch geordnet denken. Doch über die Lösung zu streiten, bevor das Problem erkannt, verstanden und als solches akzeptiert ist, ist nicht bloß Zeitverschwendung, sondern führt in eine nutzlose Konfrontation.

  • Vom Handlungsbedarf überzeugen
  • Aber wie kann man die mittleren Führungskräfte von der Dringlichkeit des Handlungsbedarfs überzeugen, wenn sie sie eigentlich am liebsten nicht sehen wollen? Was sind bessere Methoden, sie zu überzeugen, als Zahlen, Daten und Fakten, aggregiert zu Powerpoint-Präsentationen? Etliche konkrete Möglichkeiten dafür sind in dem Artikel Handlungsdruck aufgeführt. Eine ausführliche Fallstudie, wie die Vermittlung des Handlungsbedarfs in einer eher schwierigen Konstellation inszeniert wurde, findet sich in meinem Buch Change! (Kapitel 13, S. 299ff.).

  • Bessere Methoden zur Überzeugung
  • Wichtig ist bei alledem, sich bewusst zu machen, dass das Problem mit der erfolgreichen Vermittlung des Handlungsbedarfs nicht gelöst ist. Denn der Zielkonflikt mit dem Tagesgeschäft besteht ja fort, selbst wenn die mittleren Führungskräfte den Handlungsbedarf schriftlich bestätigen. Er lässt sich weder mit markigen Ansagen à la "Das muss gehen!" beseitigen noch mit Schmeicheleiern wie "Sie werden das schon irgendwie hinkriegen", die das Problem in Wirklichkeit nur wegdelegieren. Stattdessen muss ernsthaft darüber gesprochen und, wenn nötig, ausgehandelt werden, wie man doch irgendwie unter einen Hut kriegt, was eigentlich gar nicht möglich ist.

  • Gemeinsam ernsthaft nach gangbaren Weg suchen
  • Wenn das Top-Management auf diese Weise mit einer Mischung aus Deutlichkeit, Empathie und Beharrlichkeit mit der Situation umgeht, dann verschwindet unmerklich die Polarisierung zwischen den Treibern der Veränderung und den vermeintlichen Bremsern und Blockierern. Das oben beschriebene Dilemma zwischen konkurrierenden Zielen lässt sich damit zwar auch nicht auflösen; hier kann nur ein Mittelweg gefunden werden, der vermutlich aus keiner Perspektive wirklich "golden" ist. Aber zumindest vermeidet man so die Gefahr, das nicht auflösbare Dilemma zusätzlich durch einen erbitterten Machtkampf zwischen oben und unten zu erschweren, samt den mit ihm einhergehenden innerbetrieblichen Konfliktkosten.

  • Streit, aber kein Machtkampf
  • Literatur:
    Berner, Winfried (2015): Change! – 20 Fallstudien zu Sanierung, Turnaround, Prozessoptimierung und Kulturveränderung

     


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