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Veränderungsmüdigkeit: Von wachsender Erschöpfung zu einer neuen
Normalität |
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Winfried Berner, Die Umsetzungsberatung |
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In jüngster Zeit tauchen immer mehr Studien auf, wonach die
Mitarbeiter vieler Unternehmen die ständigen Veränderungen satt
haben und darauf mit wachsender Frustration, Demotivation und abbröckelnder Identifikation
reagieren.
Diesen Überdruss erleben wir auch bei vielen unserer Kunden. Die
Frage ist, welche Schlussfolgerungen daraus abzuleiten sind. |
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Sollten die Unternehmensleitungen dem vorwurfsvollen Unterton nachgeben
und ein Moratorium für Veränderungsprozesse ausrufen? Selbst wenn
sie wollten, könnten sie das gar nicht, weil es nicht in ihrer Macht steht. Denn wer aufhört, die Wettbewerbsfähigkeit seines Unternehmens
voranzutreiben, der kann auch gleich seine Abdankung unterzeichnen.
Insofern ähneln die Klagen über ständige Veränderungen denen über
das Wetter: Sie ändern das Wetter nicht wirklich, aber sie machen
den geplagten Seele Luft, finden breite Zustimmung und eignen sich
damit gut als Gesprächseinstieg. |
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Anzeichen von Erschöpfung |
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In der vorherrschenden Veränderungsmüdigkeit mischt sich nach meinem
Eindruck Neues mit Altbekanntem. In mittlerweile über 30 Jahren als
Berater habe ich niemals eine Zeit erlebt, in der Mitarbeiter
und Führungskräfte durchweg mit Begeisterung auf bevorstehende Veränderungen reagiert haben.
Doch die Klagen und Einwände haben sich verändert. Während die zentrale
Herausforderung in früheren Jahren häufig darin lag, den Mitarbeitern die
Notwendigkeit für Veränderungen deutlich zu machen, ging es später
mehr darum, weshalb schon wieder eine Veränderung anstehe und wann
endlich wieder Ruhe einkehre. In letzter Zeit jedoch mischen sich
zunehmend Züge von physischer und psychischer Erschöpfung in die
Diskussionen. |
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Plakativ gesagt: Es geht nicht mehr (allein) darum, ob die Leute
noch wollen, sondern es geht zunehmend darum, ob sie noch können. In
dieser Situation hilft es nicht wirklich, auf die Notwendigkeit immer weiterer Veränderungen hinzuweisen, selbst wenn die im Wesentlichen unbestritten und unbestreitbar ist. Denn wenn jemand nicht mehr kann, nützt es nicht, ihm zu sagen: "Du musst aber!" |
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Zwei Ursachen scheinen mir ausschlaggebend für diese Erschöpfung. Zum einen haben sich viele Unternehmen in den letzten Jahren
so weit "ge-streamlined", dass sie kaum noch Ressourcen für Nachdenken
und Weiterentwicklung haben. Sie können nur noch geradeaus fahren,
das heißt, mit höchster Effizienz ihre heutigen Prozesse abspulen.
Das geht gut bis zur nächsten Kurve; danach gilt: "Wenn es im Rückspiegel
grün ist, haben Sie die Straße verlassen." Dann steht die nächste
hektische Restrukturierung an. Veränderungen erfordern nun einmal ein Mindestmaß an Ressourcen – wenn das nicht vorhanden ist, wird es schwierig. |
Spätfolgen von Streamlining |
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Die zweite Ursache hat mit der Wahrnehmung der Veränderungsrealität
zu tun. Jeder kann, wenn ein attraktives Ziel in Sicht ist, über eine gewisse
Strecke sprinten. Und jeder kann noch ein zweites und ein drittes
Mal sprinten, wenn man ihm neue greifbare Ziele setzt. Doch irgendwann
kommt der Punkt, wo die Leute erschöpft fragen: Wie lange soll das
denn noch so weiter gehen? Lange halten wir das nicht mehr durch. Wann dürfen wir endlich einmal durchatmen? |
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Überholtes Denkmodell |
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Wir arbeiten in unserem Umgang mit Veränderungen immer noch mit
einem Denkmodell, das von der Realität längst überholt ist. Dieses
Modell ist, dass es einerseits Zeiten der Veränderung, andererseits
Zeiten der Beständigkeit, der Konsolidierung, der Stabilität gebe.
Mit diesem Bild betrügen wir zunehmend sowohl uns selbst als auch
unsere Mitarbeiter. |
Warten auf Stabilität
und Konsolidierung |
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Die Realität ist: Ich habe
kaum je Veränderungsprozesse erlebt, die in eine Konsolidierungsphase
mündeten, in der man in (relativer) Ruhe die Früchte seiner Anstrengungen
ernten konnte. Stattdessen folgte meistens einer Veränderungswelle die nächste,
darauf mit geringem Abstand und manchmal überlappend die übernächste
... (Was, nebenbei gesagt, auch die Erfolgsmessung
zu einer fast unlösbaren Aufgabe macht.) |
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Das altehrwürdige Phasenmodell von Kurt Lewin (1890 - 1941) mit "Unfreezing – Moving – Refreezing" ist, falls es je gegolten hat, hoffnungslos überholt. (Was angesichts der Tatsache, dass sein Urheber seit 70 Jahren tot ist, gewiss kein Vorwurf an ihn ist.) Dennoch: Ich habe in über 30 Jahren Change Management noch nie ein "Refreezing" erlebt, und ich bezweifle, dass das Zufall ist. Es ist daher an der Zeit, unseren Mitarbeitern und uns selbst die Wahrheit
einzugestehen. Und die ist, dass Zeiten ohne Veränderung, wenn es
sie überhaupt noch gibt, die absolute Ausnahme in unserem Berufsleben
sein werden. |
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Wenn es aber stimmt, dass Veränderungen der Normalfall sind und
nicht mehr die Ausnahme, dann müssten wir eigentlich zu einem fundamental
anderen Management von Veränderungsprozessen kommen. Dann hat es
keinen Sinn mehr, immer wieder zu sprinten und auf eine anschließende
Ruhepause zu hoffen – das würde, da diese Ruhepause nicht kommt,
in den sicheren Burn-Out münden. Dann müssen wir nicht nur unsere Kräfte anders
einteilen, im Grunde müssten das ganze Spiel mit anderen Augen betrachten. Vermutlich müssten wir
eher in Richtung Intervall-Training denken. |
Veränderung ist der
Normalfall |
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Zahlreiche Fallbeispiele zu den unterschiedlichsten Typen von Change-Projekten finden Sie in meinem Buch "Change! – 20 Fallstudien zu Sanierung, Turnaround, Prozessoptimierung, Reorganisation und Kulturveränderung" (Schäffer-Poeschel, 2. erweiterte Auflage 2015). Es vermittelt Ihnen einen breiten Überblick über die unterschiedlichsten Arten von Veränderungsprozessen und zeigt Ihnen, worauf es jeweils ankommt, um Ihre Change-Vorhaben zum Erfolg zu führen.
Mehr Informationen über das Buch "Change! – 20 Fallstudien"
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Ein notwendiger Paradigmenwechsel |
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Mit einer veränderten Einstellung zu Veränderungen ist es
nicht getan. Das erforderliche Umdenken reicht tief in die Strukturen
und Prozesse hinein. Viele heutigen Strukturen gehen unausgesprochen davon aus, dass
größere Veränderungen die Ausnahme sind und relative Stabilität
die Regel. Da das empirisch einfach nicht (mehr) stimmt, passen
Strukturen und Abläufe nicht mehr zur Realität. Erforderlich wäre,
die ständigen Veränderungen in unseren Strukturen und Prozessen
abzubilden, statt sie, wie bisher, als vermeintliche Ausnahme auszublenden. |
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In einigen Bereichen ist dies längst gelungen, etwa bei Automobilunternehmen.
Sie haben einen Modellzyklus von etwa 5 – 7 Jahren – in diesem Abstand kommt
ein neuer Golf, eine neue S-Klasse und eine neue 5er-Reihe heraus.
Die daraus entstehenden Veränderungen, die zyklisch das ganze Unternehmen
durchziehen, sind vorhersagbar – und sie sind heute fest eingeplant. |
Beispiel Automobil-
industrie |
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Man darf aber davon ausgehen, dass das nicht immer so war. In der
automobilen Frühzeit dürfte ein Unternehmen wie Ford irgendwann einmal festgestellt
haben, dass seine alte Baureihe, das Modell T, in die Jahre gekommen war und sich
nicht mehr gut verkaufte – worauf hektisch ein Projekt eingerichtet wurde, um ein neues Modell zu entwickeln. Einige Jahre später mag sich das gleiche Drama erneut abgespielt
haben – bis man schließlich entdeckte, dass sich dieses Drama nicht zufällig wiederholt, sondern wesentlicher
Bestandteil des Geschäfts ist. |
Hilfe, wir brauchen ein neues Modell! |
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Also hat man die wiederkehrende Krise durch die entsprechende Ausrichtung
von Strukturen und Prozessen "gezähmt". Man hat einen Bereich "Entwicklung" aufgebaut, dessen Job darin besteht, in regelmäßigen Abständen neue Modelle bereitzustellen, und man hat das gesamte Unternehmen, aber vor allem Produktion und Vertrieb, an die regelmäßigen Modellwechsel gewöhnt. Heute sind Modellwechsel immer noch stressig, aber sie sind keine Krise mehr. Stattdessen sind sie fester Teil der Jahresplanung, dem man mit einer Mischung von Nervosität und freudiger Erregung entgegenblickt. |
Von einer Krise zum Teil der Jahresplanung |
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Spannend ist die psychologische Auswirkung dieses "Paradigmenwechsels":
Was vorher die Ausnahmesituation war, wurde zur neuen Normalität.
Nach dem Umdenken weiß man eben, dass alle paar Jahre die nächste
Welle kommt, und stellt sich darauf ein. Natürlich ist jeder Modellwechsel
mit Stress verbunden, mit Nervosität, ob alles gut geht und man an alles gedacht hat, mancherorts auch mit Panikattacken und vorbeugenden Schuldzuweisungen. Aber die große Überraschung und das lähmende Krisengefühl sind weg – die wiederkehrende
Veränderung ist zur professionellen Routine geworden. |
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Veränderung zum organisatorischen Normalfall machen |
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In ähnlicher Weise sollten wir die Umstellung auf "Veränderung als Normalzustand"
anpacken. Das beginnt damit, anstehenden Veränderungsbedarf
nicht nur zu erkennen, sondern ihn systematisch zu erfassen, zeitlich zu planen und zu koordinieren. Sonst
entstehen rasend schnell Engpässe – sowohl in der Mannschaft, wo
drei Projekte plus Tagesgeschäft gleichzeitig an den gleichen Personen
zerren, als auch an der Unternehmensspitze, wo anderenfalls die klassischen
Entscheidungsstaus entstehen. |
Veränderungs-
bedarf erkennen |
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Es geht damit weiter, Ressourcen – Geld, aber vor allem Zeit –
für Veränderungen einzuplanen und bereit zu stellen. (Und sicherzustellen, dass sie
nicht vom Tagesgeschäft absorbiert werden.) Denn wenn es stimmt,
dass ständige Veränderungen der Normalfall sind, wäre es naiv,
anzunehmen, sie ständig "nebenher" bewerkstelligen zu können: Die Entwicklung neuer Automodelle kann eben nicht von Produktion und Marketing "nebenher" erledigt werden, man hat dafür zu Recht einen eigenen Bereich Entwicklung geschaffen, der wegen seiner Bedeutung für den langfristigen Geschäftserfolg typischerweise sogar ein eigenes Vorstandsressort ist. Um
kontinuierlich anfallende Change-Prozesse handhabbar zu machen, müssen Kapazitäten zu deren Planung,
Steuerung und Realisierung bereitgestellt
werden. |
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Schließlich müssen die Führungs- und Planungsprozesse auf ständige
Veränderung ausgerichtet werden. Denn auch wenn die Entwicklung dafür verantwortlich ist, neue Modelle zu entwerfen, zu planen und serienreif zu machen, die Idee ist ja nicht, dass sie sie dann auch produziert und vermarktet. Also müssen sich alle anderen Ressorts, die mit den neuen Modellen befasst sein werden, rechtzeitig auf den Modellwechsel einrichten: Der Einkauf muss die Lieferanten rechtzeitig darauf vorbereiten, welche Teile künftig nicht mehr benötigt und welche stattdessen gebraucht werden, die Umstellung der Produktionsumstellung muss geplant, die Werbung konzipiert und der Vertrieb sowie die Werkstätten geschult werden ... |
In Führungs-
prozesse integrieren |
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Das darf um Himmels willen nicht
dazu führen, Planungsprozesse noch komplexer und formalistischer
zu machen – vielmehr geht es darum, die anstehenden Veränderungen
samt der dafür anfallenden Aufwände und Kosten in die Planung aller Ressorts zu integrieren, statt, wie es so oft
geschieht, nur die Resultate einzuplanen und die gesamten übrigen
Veränderungsprozesse unkoordiniert parallel zu der eigentlichen Geschäftsplanung
laufen zu lassen. Denn sonst sind Konflikte mit dem Tagesgeschäft und die entsprechenden
Reibungsverluste unausweichlich. |
Anstehende Veränderungen einplanen |
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So betrachtet, hat die wachsende Veränderungsmüdigkeit wohl auch eine Ursache, die selten erkannt und bekannt wird: Dass nämlich viele Unternehmensleitungen, obwohl sie oft predigen, dass ständige Veränderungen längst zum Dauerzustand geworden sind, selbst noch nicht in voller Tragweite begriffen haben, was das bedeutet, oder noch nicht die organisatorischen und planerischen Konsequenzen aus dieser Erkenntnis gezogen haben. Denn wenn sie das ernst nehmen, dann ergibt es keinen Sinn mehr, das Konzipieren und Realisieren von Veränderungen als Zusatzaufgabe zu behandeln, die man mal der einen Führungskraft, mal der anderen Mitarbeiterin parallel zum Tagesgeschäft aufs Auge drücken kann. |
Konsequenzen aus der eigenen Erkenntnis ziehen! |
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Sie planen gerade ein Change-Projekt, bei dem es um derartige Themen geht? Oder haben eine verwandte Fragestellung, zu der Sie fachkundige Unterstützung oder eine kompetente Hintergrund-Beratung suchen? Dann sprechen Sie uns gerne an!
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© 2003, 2020 Winfried Berner / Überarbeitung 14.11.2020 – vollständige oder auszugsweise Wiedergabe, gleich in welcher Form, honorarpflichtig und nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung / Zitate im üblichen Umfang mit Quellenangabe gemäß wiss. Zitationsregeln zulässig. Näheres siehe Nutzungsbedingungen.
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