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Leitbild und Führungsgrundsätze: Weshalb sie nichts verändern |
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Winfried Berner, Die Umsetzungsberatung |
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Obwohl ich als Berater viele Unternehmen von innen kenne, wüsste
ich kein einziges zu nennen, in dem die Einführung eines Leitbilds
oder von Führungsgrundsätzen eine greifbare positive Wirkung gehabt
hätte. Das liegt weder an einem Mangel an gutem Willen noch an groben
handwerklichen Fehlern. Es liegt vielmehr daran, dass auch die sorgfältigste
Beschreibung, wie man die Welt gerne hätte, nicht bewirkt, dass
die Welt so wird. Im günstigsten Fall geht der Alltag über Leitbilder, Führungsgrundsätze
etc. schlicht hinweg, im ungünstigeren richten sie sogar Schaden
an. |
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Es wäre voreilig, daraus, wie es zuweilen geschieht, die Schlussfolgerung
abzuleiten, dass man eine Unternehmenskultur
oder die Unternehmenswerte überhaupt nicht verändern könne. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür,
wie sich im Laufe von Veränderungsprozessen auch Unternehmenskulturen
dauerhaft verändert haben – bei Großkonzernen ebenso wie im Mittelstand und im öffentlichen Dienst. Doch in aller Regel geschah nicht durch
Leitbilder und Führungsgrundsätze, sondern über konkrete, geschäftsbezogene
Veränderungsziele
wie Kundenorientierung, Kostensenkung,
Ablaufoptimierung, Qualitätskampagnen oder Programme
zur Steigerung der
Mitarbeiterqualität. |
Wege zur Kultur-
veränderung |
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Das "Regenmacher-Syndrom" |
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Der Grund, weshalb Leitbilder und Führungsgrundsätze in aller Regel
im Niemandsland enden, ist, dass es zwar oftmals einen "starken
Anfang" gibt, aber danach keine wirkliche Fortsetzung. Im Grunde
wird hier sehr häufig Management-Voodoo betrieben: |
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Abb.: Geisterbeschwörung im Management |
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Magisches Denken (Voodoo / abergläubisches Handeln) liegt dann
vor, wenn zwischen dem eigenem Handeln und dem gewünschtem Ergebnis
kein schlüssiger Kausalzusammenhang besteht. Denn warum sollte sich eine Kultur verändern, nur weil man im Indikativ Präsens auf einen Zettel geschrieben hat, wie man sich eine bessere Kultur vorstellt ("Wir gehen offen und vertrauensvoll miteinander um") und ein paar Bekräftigungsrituale dazu veranstaltet hat? Das ist ungefähr so, wie wenn man sein Wunschgewicht auf einen Zettel schreibt, sich dann noch ein paar T-Shirts und Poster mit diesem Wunschgewicht bedruckt und dann bei unveränderten Lebensgewohnheiten darauf wartet, dass man abnimmt. Wenn sich dann nach einem Jahr noch nichts getan hat, kann man sich ja damit trösten, dass Kulturveränderungen eben mehrere Jahre dauern. |
Fehlender Kausal-
zusammenhang
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Regentänze haben im Vergleich sogar noch einen Vorteil: Die Wahrscheinlichkeit,
dass es regnet, ist tatsächlich um so größer, je länger man diese
Tänze durchhält. Das liegt zwar nur daran, dass die Regenwahrscheinlichkeit
steigt, je mehr Zeit verstreicht, aber immerhin, es wirkt. Und es hilft, die Wartezeit zu überbrücken, wenn man die Leute in Bewegung hält, und gibt ihnen das Gefühl, aktiv etwas zu tun, statt bloß passiv auf Regen zu warten. |
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Das Problem mit Leitbildern und Führungsgrundsätzen ist, dass die gewünschten
Veränderungen der Unternehmenskultur – im Gegensatz zum Regen – nicht von alleine kommen,
wenn man die Leute nur lange genug mit Freiübungen beschäftigt.
Vielmehr stellt sich nach einer Weile immer mehr Unzufriedenheit
und Zynismus ein. Das läuft oft in sechs Phasen ab:
- Begeisterung: Zumindest die jüngeren Mitarbeiter, die noch keine früheren Leitbildprozesse miterlebt haben, hören die wohlklingenden Grundsätze, finden sie gut und projizieren ihre unerfüllten Hoffnungen und Wünsche hinein. (In den meisten Firmen wächst allerdings seit Jahren der Anteil derer, die solche Übungen schon einige Male miterlebt und die Nase gestrichen voll davon haben.)
- Erwartung: Sie warten darauf, dass die Vorgesetzten und Kollegen ihre hochgesteckten Erwartungen erfüllen.
- Ernüchterung: Je länger sie warten, desto
mehr schlägt die Hoffnung und Vorfreude in Enttäuschung um.
- Protest: Bei passender Gelegenheit – oder wenn sie ein Vorfall besonders stört –, bringen einige vorwitzige Mitarbeiter die Diskrepanz zwischen Worten und Taten zur Sprache.
- Verbitterung: Meist erklärt das Management dann, dass sie zu viel und Falsches in die Leitsätze hineininterpretiert hätten. Spätestens dann fühlen sich die Leute auf den Arm genommen und ziehen sich zurück.
- Zynismus: Nach einigen solchen Erfahrungen hat das Leitbild jede "Leitwirkung" verloren und taugt nur noch für sarkastische Sprüche hinter vorgehaltener Hand ("Wir führen durch Vorbild. Ha. Ha.").
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Kultur ändert sich
nicht von allein |
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Das fortgeschrittene Stadium einer solchen Krise kann man in Unternehmen
beobachten, die vor einiger Zeit ein Leitbild oder Führungsgrundsätze
eingeführt haben. Fragt man die Mitarbeiter, was es mit den aushängenden Postern auf sich hat, erntet man oftmals
äußerst unwirsche Reaktionen: "Lassen Sie mich bloß damit in Ruhe!"
Häufig werden dann bei jedem neuen (echten oder vermeintlichen)
Regelverstoß voller Sarkasmus jene Programmsätze zitiert, bei denen die
größten Enttäuschungen sitzen. "We care for the individual",
raunte man sich auf den Fluren eines Beratungsunternehmens zu, wenn wieder einmal,
um knappe Kundentermine zu halten, private Verabredungen
abgesagt und Wochenenden durchgearbeitet werden müssen. Die Oberzyniker setzten noch eins drauf und behaupten, dies geschehe selbstverständlich
aus reiner Fürsorglichkeit, um die jungen und unreifen
Mitarbeiter vor den Anfechtungen des großstädtischen
Nachtlebens zu schützen. |
Enttäuschung und
Zynismus |
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Programmsätze sind Projektionsflächen |
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Zur finalen Stufe von Eskalation von Unzufriedenheit und gegenseitiger
Entfremdung kommt es, wenn die Diskrepanz zwischen Worten und Taten
bei einer vermeintlich passenden Gelegenheit offen zur Sprache gebracht
wird. Das Management ist dann nicht selten überrascht, erschrocken
oder gar entsetzt darüber, welche Dinge in die Leitsätze "hineininterpretiert"
werden. Denn dadurch kommen die Vorgesetzten selbst unter Druck, und zwar oft mehr als sie eingestehen wollen: Sie sehen sich mit Erwartungen konfrontiert, denen sie nicht gerecht werden – und dies oftmals auch gar nicht können oder wollen. |
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Um den Schwarzen Peter loszuwerden und sich von dem Druck "überzogener" Erwartungen an ihr Führungsverhalten
zu befreien, versuchen sie, diese "Fehlinterpretationen"
sofort zu korrigieren. Dabei schlägt sich das eigene Unbehagen und – ansatzweise
– schlechte Gewissen zuweilen in überzogenen Formulierungen nieder,
die weitere Kränkungen auslösen. Wie etwa in der erwähnten Beratungsfirma in dem ärgerlichen Hinweis des Managements, dass "We care for the
individual" selbstverständlich nicht heiße, dass ein Beratungsjob
mit einem Beamtenverhältnis oder einer beschützenden Werkstatt gleichzusetzen
sei und dass man "ein Mindestmaß an Leistungsbereitschaft" in einer
Beratungsfirma schon erwarten müsse. |
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Damit ist die Sache endgültig gelaufen. Die verletzende Betonung
von Selbstverständlichkeiten, die mitschwingende Unterstellung mangelnden Leistungswillens und der Anspruch, letztinstanzlich
zu entscheiden, was richtige und was Fehlinterpretationen sind,
gibt den Mitarbeitern das Gefühl, mit der ganzen Aktion verschaukelt
worden zu sein. Ohnmächtig und wütend ziehen sie das Fazit: "Sie
drehen doch wieder alles so hin, wie es ihnen passt." Und wenden
sich verärgert, gekränkt und getäuscht ab. In
diesem Fall hat der Regentanz keinen Regen gebracht, sondern noch größere
Dürre. |
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Dass das Leiden an Leitsätzen über einzelne schlecht gelaufene
Einzelfälle hinaus reicht, sieht man daran, dass einige besonders
"beliebte" Formulierungen längst zum Running Gag geworden sind.
Betriebsräten aller
Herren Länder sträuben sich die Nackenhaare, wenn es wieder einmal
irgendwo heißt, dass der Mensch im Mittelpunkt stehe. Der Ärger
über solche Sprüche hat sich längst in zahlreichen Parodien niedergeschlagen:
"Der Mensch steht im Mittelpunkt – und damit allen im Weg." Oder,
noch prägnanter: "Der Mensch ist Mittel. Punkt." |
Leitsätze oder Leidsätze? |
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Wie Sie vorgehen können, um die Kultur Ihres Unternehmens gezielt zu verändern, erfahren Sie in meinem Buch "Culture Change – Unternehmenskultur als Wettbewerbsvorteil" (Schäffer-Poeschel 2. erweiterte Auflage 2019). Es vermittelt Ihnen praxiserprobte Strategien zur Kulturveränderung und zeigt Ihnen, worauf es ankommt, um die Weiterentwicklung Ihrer Unternehmenskultur nicht nur erfolgreich zu starten, sondern sie über alle Fallstricke hinweg zu einem dauerhaften Erfolg zu führen.
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Was tun? |
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Ich habe einige Zeit geglaubt, dass dieses Problem
zu beheben wäre, wenn man die Leitsätze nur präzise genug formuliert
und sie zu nachprüfbaren Indikatoren konkretisiert. Inzwischen bin
ich mir da nicht mehr so sicher. Zwar ist eine Konkretisierung ohne
Zweifel nützlich, weil sie sowohl den Mitarbeitern als auch der
Führungsmannschaft die extrem frustrierenden nachträglichen Kontroversen
um die richtige Auslegung erspart. Je präziser man zu jedem Leitsatz festlegt,
was er genau bedeutet (und was nicht!) und woran man erkennt, ob
er erfüllt ist oder nicht, desto unwahrscheinlicher wird, dass es
zu grundlegend unterschiedlichen Auslegungen kommt. |
Präzisierung durch
Indikatoren |
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Dennoch ist fraglich, ob dies die Sache rettet. Auch nach dieser Präzisierung bleibt das Problem, dass Leitbilder
und Führungsgrundsätze die Erwartungen enorm in die Höhe schrauben
– oft über das menschliche Maß hinaus. Je höher jedoch die Erwartungen,
desto größer das Potenzial für Enttäuschungen. Da aber die meisten Führungskräfte
auch "nur" Menschen sind, werden sie diesen überhöhten Maßstäben
auch bei redlichstem Bemühen nicht immer gerecht. Je umfassender,
vollständiger und herzergreifender die Leitsätze geraten sind, desto
mickriger fällt im Vergleich dazu die Realität aus – zumal viele
Führungskräfte angesichts eines Maßstabs, der ihnen einen heiligmäßigen
Lebenswandel abverlangen würde, resignieren
und sich gar nicht mehr um Verbesserungen bemühen. |
Überhöhte Erwartungen
und ihre Folgen |
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Wenn das aber stimmt, dann ist es nicht damit getan, die Anforderungen
zu präzisieren; das würde sie nur noch einschüchternder machen.
Dann ist die einzig mögliche Konsequenz ein von Grund auf anderes
Vorgehen. Dann müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden,
in einem Anlauf eine Gesamtlösung schaffen zu können, die dann ein
für allemal (oder wenigstens für die nächsten fünf Jahre) Geltung hat. Wenn
Leitbild und Führungsgrundsätze nicht bloß Marketing sein, sondern
die Kultur und das Verhalten wirklich und dauerhaft verändern sollen, ist ein
sequentielles, schrittweises Herangehen empfehlenswert, und damit
zugleich die Konzentration auf einige wenige, aber zentrale Schwerpunkte. |
Konzentration statt
Universallösung |
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Grundlegend anderes Vorgehen erforderlich |
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Darüber hinaus erfordert es ein ernsthaftes und stringentes Vorgehen
– nicht bloß einen starken Anfang, dem es an einer vergleichbar überzeugenden
Fortsetzung fehlt, sondern ein durchdachter Plan von Anfang bis Ende, der mit langem Atem umgesetzt wird. Normalerweise,
wenn man im Business etwas verändern will, schreibt man ja auch
keine Programmsätze, sondern man definiert Ziele
und Maßnahmen und legt Termine für die Überprüfung der Zielerreichung fest. Warum sollte man diese bewährte Vorgehensweise nicht auch
auf die Weiterentwicklung der Unternehmenskultur übertragen? Würde man
die Führungsgrundsätze beispielsweise die in die Leistungsbeurteilung für Führungskräfte
integrieren und, sofern vorhanden, in die variable Vergütung einfließen lassen, würde das allen Beteiligten einen hohen Grad von Ernsthaftigkeit signalisieren. |
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Das kann weitere Konsequenzen haben. Möglicherweise stellt sich
heraus, dass manche Ziele in den Bereichen Führung und Zusammenarbeit
durch das Top-Management nicht oder nur unvollständig beurteilt werden
können. Dann müssen eben andere geeignete Controlling-Methoden gefunden
werden. Vielleicht muss dann konsequenterweise eine Vorgesetztenbeurteilung oder ein 360-Grad-Feedback eingeführt werden. Aber das kann man ja machen, und
man wird es auch tun, wenn man es mit den Zielen wirklich ernst meint.
Wer vor solchen Umsetzungsschritten zurückschreckt, weil sie aus
seiner Sicht "zu viel Aufwand" sind oder "zu viel Unruhe" bringen, sollte
besser ganz die Finger von der Sache lassen – zu groß ist die Gefahr,
die Loyalität der Mitarbeiter unnötig
zu strapazieren und am Ende, wie oben gesehen, statt einer Kulturveränderung nur einen Anstieg des Zynismus' zu bewirken. |
Bereitschaft zur
Konsequenz |
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Nach meinen Erfahrungen finden solch programmatische Aussagen, wie sie
sich in Leitbildern und Führungsgrundsätzen versammeln, am ehesten
dann Akzeptanz, wenn sie im Laufe einer echten Kulturveränderung entstehen, und zwar relativ spät (!) in diesem Prozess.
Dann haben die Mitarbeiter bereits wahrgenommen, dass etwas in Bewegung
ist, sich damit auseinandergesetzt, wie es sie selbst und ihre Vorgesetzten
betrifft, und erste Umstellungen in ihren Gewohnheiten vorgenommen. Wenn das geschehen ist, werden realitätsnah formulierte,
nicht allzu sehr idealisierende Leitsätze als Bestätigung und Bekräftigung
des eingeschlagenen Wegs verstanden und akzeptiert. |
Leitsätze als Bekräftigung
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Sie denken gerade über die strategische Weiterentwicklung Ihrer Unternehmenskultur nach oder planen ein entsprechendes Projekt? Oer haben eine verwandte Fragestellung, zu der Sie fachkundige Unterstützung oder eine kompetente Hintergrund-Beratung suchen? Dann sprechen Sie uns gerne an!
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oder direkte Mail an w.berner(at)umsetzungsberatung.de
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© 2002 Winfried Berner / letzte Aktualisierung 12.12.2018 – vollständige oder auszugsweise Wiedergabe, gleich in welcher Form, honorarpflichtig und nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung / Zitate im üblichen Umfang mit Quellenangabe gemäß wiss. Zitationsregeln zulässig. Näheres siehe Nutzungsbedingungen.
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