Dramaturgie der Veränderung: Die Inszenierung von Change-Prozessen |
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Winfried Berner, Die Umsetzungsberatung |
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Im Change Management von "Dramaturgie" und "Inszenierung" zu
sprechen, mag Irritationen auslösen. Schließlich kommen die Begriffe
vom Theater und beziehen sich darauf, ein Schauspiel
(!) möglichst wirksam in Szene zu setzen. Deshalb scheint manchen die
Übertragung auf Veränderungsprozesse unangemessen, weil es hier
nicht um Schauspieler(ei) geht, sondern um das reale Leben, um authentische Gedanken
und Gefühle und um das Ringen um Weichenstellungen. |
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In der Tat handelt es sich beim Change Management nicht um die
Reproduktion eines vorgezeichneten Theaterstücks, dessen Verlauf
und Ende feststeht, sondern um einen Entwicklungsprozess, bei dem
zwar die Ziele klar, aber sowohl der Verlauf als auch das Ergebnis offen sind. Doch "Ergebnisoffenheit"
heißt nicht Beliebigkeit; vielmehr soll ja ein ganz bestimmtes Ergebnis
– nämlich das Erreichen der Veränderungsziele – herauskommen, und
zwar über einen möglichst effizienten Prozess, der mit möglichst wenig
Ängsten,
Konflikten und Reibungsverlusten einhergeht und dabei im Idealfall nicht nur die Vorgaben des Top-Managements umsetzt, sondern das Wissen und die Erfahrung des Gesamtsystems ausschöpft. |
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Doch das heißt nicht, dass eine Dramaturgie der Veränderung nicht angemessen wäre – im Gegenteil: Gegenüber Theater oder Film besteht im Change
Management eher ein erhöhter Bedarf für Dramaturgie. Dort ist der
Ablauf bis ins Detail vorgegeben, und es geht "nur" noch darum,
ihn möglichst wirksam in Szene zu setzen; im Change Management hingegen
geht es darum, einen offenen Prozess zu einem guten Resultat zu
führen – und zwar "real-time", ohne Drehbuch, ohne Generalprobe
und ohne die Chance, eine missglückte Szene ein zweites Mal zu spielen.
Eine durchdachte Change-Architektur und eine gute Dramaturgie sind dafür eine zwingene Voraussetzung. |
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Drei Ebenen der Dramaturgie |
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Was heißt Dramaturgie im Change Management? Es heißt vorausschauende
Planung und Gestaltung des Veränderungsprozesses auf drei Ebenen:
- Ebene der Ereignisse (Fakten, Maßnahmen, Ergebnisse)
- Ebene der Gedanken und Bewertungen
- Ebene der Gefühle.
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Die zweite und die dritte Ebene sind, wie im Abschnitt Emotionen erläutert,
eng miteinander verwoben: Unsere Gefühle sind die Folge unserer
Gedanken und Bewertungen. Wenn es Ihnen also gelingt, die Mitarbeiter
zu den "richtigen" Bewertungen zu führen, werden daraus automatisch
die "richtigen" Gefühle folgen. Das heißt, das geheimnisvolle "Klima", die Stimmungslage im Unternehmen
in einer gegebenen Situation, ist nichts anderes als die Folge davon,
wie die Mitarbeiter, Führungskräfte und der Betriebsrat die momentane Lage und die jüngsten Ereignisse
bewerten. |
Bewertungen und Gefühle
hängen zusammen |
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Interessanterweise besteht zwischen der ersten und der zweiten
Ebene, also den Ereignissen und den Bewertungen längst kein so enger
Zusammenhang. Das liegt nicht bloß daran, dass es immer Ansichtssache
ist, ob das Glas halb voll oder halb leer ist. Wichtiger als das
Ausmaß an persönlichem Optimismus oder Pessimismus sind zwei andere
Dinge: Erstens der Filter der persönlichen Erfahrungen, durch den
wir die um uns herum stattfindenden Ereignisse wahrnehmen, mit der
Folge, dass zum Beispiel ein ängstlicher Mensch auf das gleiche
Ereignis völlig anders reagiert als einer, der voller Selbstvertrauen
ist. |
Komplexer Bewertungs-prozess |
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Zweitens spielt eine große Rolle, dass bei Veränderungen in Unternehmen
nicht isolierte Einzelpersonen die Ereignisse jeweils für sich bewerten,
sondern dass die Mitarbeiter und Führungskräfte die Ereignisse diskutieren und ihre
Bewertung sozusagen untereinander "aushandeln", wobei interne Meinungsführer
eine große Rolle spielen. Mit der Folge dass es schon nach kurzer
Zeit nicht mehr Hunderte von Einzelmeinungen gibt, sondern dass
die Sichtweisen konvergieren und sich entweder eine Mehrheitsmeinung
herausbildet oder aber verschiedene "Lager". |
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Das hat für das Change Management sowohl Vor- als auch Nachteile.
Der Vorteil ist, dass man nicht jeden Mitarbeiter einzeln überzeugen
muss, sondern sich darauf konzentrieren kann (und muss!), diesen
sozialen Bewertungsprozess zugunsten des Veränderungsvorhabens zu
beeinflussen. Die Kehrseite der Medaille ist, dass immer auch das
Risiko besteht, dass die interne Öffentlichkeit zu einer negativen
Bewertung des Vorhabens (oder des Vorgehens) kommt. Und dann wird
es schwierig. |
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Ziel der "Dramaturgie der Veränderung" muss daher sein, den gesamten
Prozess so zu gestalten, dass die Führungskräfte und Mitarbeiter
zu Bewertungen kommen, die für den Fortgang des Veränderungsprozesses
förderlich sind. Das müssen durchaus nicht immer positive Bewertungen
sein. So kann es zum Beispiel beim Start eines Veränderungsvorhabens
notwendig sein, einen ausgeprägten Leidensdruck
im Unternehmen aufzubauen, um überhaupt ausreichende
Handlungsbereitschaft zu wecken.
Ebenso kann es an kritischen Stellen des Veränderungsprozesses nützlich
sein, vorhandene Konflikte spektakulär zuzuspitzen,
um Halbherzigkeiten zu überwinden und echte Entscheidungen herbeizuführen.
Beides verschlechtert zweifellos die Stimmung – aber es hilft, voranzukommen. |
Dramaturgie der Bewertung |
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Zahlreiche Fallstudien zu den unterschiedlichsten Typen von Change-Projekten samt ihrer jeweiligen Change-Dramaturgie finden Sie in meinem Buch "Change! – 20 Fallstudien zu Sanierung, Turnaround, Prozessoptimierung, Reorganisation und Kulturveränderung" (Schäffer-Poeschel, 2. erweiterte Auflage 2015). Es vermittelt Ihnen einen breiten Überblick über die unterschiedlichsten Typen von Veränderungsprozessen und zeigt Ihnen, worauf es jeweils ankommt, um Ihre Change-Vorhaben zum Erfolg zu führen.
Mehr Informationen über das Buch "Change! – 20 Fallstudien"
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Lang-, mittel- und kurzfristige Dramaturgie |
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Der schwierigste Teil der Dramaturgie ist ohne Zweifel, den gesamten
Spannungsbogen eines großen Veränderungsvorhabens vorauszudenken
und vorausschauend zu gestalten. Das ist immer nur unvollkommen möglich, denn –
anders als der Regisseur eines Spielfilms – haben wir im Change
Management ja nie vollständig unter Kontrolle, was in den nächsten
Wochen und Monaten passiert. Abgesehen davon, dass es schwierig
ist, in die Zukunft zu blicken: Hundertprozentig die Kontrolle zu haben, würde
ja bedeuten, dass alle anderen Beteiligten keinerlei Einfluss auf
den Verlauf mehr haben, und das ist fern jeder Realität. |
Übergreifender Spannungsbogen
eines Projekts
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Die langfristige Dramaturgie ist deshalb so etwas wie das "unvollendete
Meisterstück" des Change Management: Sie kann und wird nie perfekt
sein, aber es ist dennoch von großer Bedeutung, sich um ihre bestmögliche
Gestaltung zu bemühen. |
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Wichtige Instrumente und Werkzeuge der langfristigen Dramaturgie
sind klare Ziele, die Vertrautheit
mit der emotionalen Dynamik
von Veränderungsprojekten sowie all die Instrumente, die dazu
dienen, frühzeitig Ergebnisse
zu sichern und Krisen
vorzubeugen, von der Auftragsklärung
über das konsequente Herbeiführen von Quick
Hits bis zum Change
Controlling. |
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Etwas weniger komplex, aber dennoch alles andere als trivial ist
die "mittelfristige Dramaturgie". Dabei geht es um die Frage, welche
Maßnahmen und Ergebnisse in den nächsten Tagen, Wochen oder Monaten
notwendig sind, um den Veränderungsprozess in die richtige Bahn
zu lenken bzw. auf der richtigen Bahn zu halten. Dafür müssen drei
Gesichtspunkte zusammengeführt werden: Erstens eine Einschätzung
der momentanen Situation, zweitens die Beurteilung des aktuellen
Handlungsbedarfs (wie etwa: Ist eine Intervention erforderlich, und
wenn ja, in welcher Richtung und Stärke?), drittens die Auswahl
der geeigneten Maßnahmen und Methoden. |
Mittelfristige Dramaturgie |
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Die mittelfristige Dramaturgie erfordert Klarheit der übergeordneten
Ziele. Denn sonst lassen sich Kursabweichungen
nicht feststellen, und es entsteht situationsgetriebener Aktionismus
("Die Stimmung ist schlecht – wir müssen dringend etwas tun, um
die Leute aufzumuntern!"). Zweitens erfordert es eine realistische
Einschätzung der momentanen Situation, was wiederum genügend Datenpunkte
aus allen Teilen des Unternehmens voraussetzt. (Eine Schwierigkeit
für externe Change Manager, und oft auch für interne!) Außerdem
erfordert es ein gewisses Methodenrepertoire,
um für die jeweilige Bedarfslage ein geeignetes Instrument auswählen
zu können. |
Aktuelle Prozess-steuerung |
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Ein typischer Fehler in der mittelfristigen Dramaturgie ist, dass
bereits zu einem Zeitpunkt Lösungen diskutiert und oft auch schon
Maßnahmen geplant werden, wo sich die Betroffenen und Beteiligten
noch längst nicht einig sind, worin das Problem besteht – bzw. ob
überhaupt eines besteht. Das fliegt einem spätestens dann um die
Ohren, wenn bei der Umsetzung der Lösung die ersten Schwierigkeiten
auftauchen. Deshalb ist es wichtig, einen Problemkonsens
zu schaffen, bevor man mit der Suche nach Lösungen und deren Umsetzung
beginnt. |
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Mikro-Dramaturgie von Veranstaltungen |
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Schließlich gibt es auch eine Dramaturgie auf der Mikroebene, also
innerhalb der eingesetzten Instrumente oder Methoden.
Gleich ob Großveranstaltung,
Info-Markt oder Workshop,
immer ist es notwendig, sich sorgfältig zu überlegen, welcher
klimatische Verlauf für die jeweilige
Veranstaltung sinnvoll und zielführend ist. Dabei helfen folgende
drei Leitfragen: |
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- Welche Ziele sollen am Ende der Veranstaltung erreicht
sein? – Denken Sie dabei nicht nur daran, welche Informationen vermittelt
sein sollen, sondern auch und vor allem daran, welche Bewertungen und Gefühle bei den Teilnehmern am Schluss
der Veranstaltung vorherrschen sollen.
- Wie ist die Ausgangslage – was ist der inhaltliche Stand
des Projekts, als wie erfolgreich wird es wahrgenommen, wie ist
die Stimmung bei den direkt oder indirekt Betroffenen, welche Rolle spielen dabei der Betriebsrat und andere Meinungsführer, welche Konflikte
und Schwierigkeiten bestehen derzeit?
- Welche Dramaturgie, das heißt welcher Aufbau und
Ablauf der Veranstaltung kann mit einiger Wahrscheinlichkeit gewährleisten,
dass Ihnen der Brückenschlag von der derzeitigen Ausgangslage zu
dem angestrebten Ziel gelingt?
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Die kurzfristige Dramaturgie beginnt damit, zu überprüfen, ob die
gesetzten Ziele mit der geplanten Intervention überhaupt erreicht
werden können. Denn es macht wenig Sinn, hinter einem unerreichbaren
Ziel herzulaufen – und hinterher betreten festzustellen, dass man
es leider tatsächlich nicht erreicht hat. In solch einem Fall muss
entweder ein anderes – möglicherweise aufwendigeres, eventuell mehrstufiges
– Vorgehen gewählt werden, oder es müssen die Ziele an das Erreichbare
angepasst werden. |
Überprüfung der Ziel-Mittel-Relation |
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Die Faustregel für die kurzfristige Dramaturgie lautet, Veranstaltungen
"von hinten her" zu konzipieren: Welche Gefühlslage, welche Stimmung
soll am Ende vorherrschen? Was sollte deshalb die Schwerpunkte des
letzten Teils der Veranstaltung sein, und was genau sollte dort
geschehen? Welche Voraussetzungen müssen in den vorausgehenden Teilen
geschaffen werden, damit dies gelingen kann? Welche Ängste, Vorbehalte und anderen Hindernisse müssen daher im Laufe der Veranstaltung thematisiert und befriedigend geklärt werden? |
Von hinten her konzipieren |
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Selbst eine geplante Krise kann helfen |
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Nehmen wir als Beispiel einen internationalen Management-Workshop,
der zum Ziel hatte, eine Reihe von konkreten Problemen in der Zusammenarbeit
zwischen verschiedenen Standorten zu adressieren und zu beseitigen.
Was die Sache schwierig machte, ist, dass es schon eine Reihe von
Veranstaltungen gegeben hatte, in denen man sich voller Begeisterung
gegenseitig gute Zusammenarbeit gelobt hatte. Für den Abschluss
strebten wir daher keine euphorische Stimmung an, sondern ein eher
nüchternes Klima, dafür aber konkrete Vereinbarungen. |
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Eine zusätzliche Erschwernis lag darin, dass über die vorhandenen
Probleme nicht öffentlich gesprochen wurde, sondern nur hinter vorgehaltener
Hand – und in Abwesenheit der jeweiligen Kontrahenten. Voraussetzung
für eine Veränderung war also, das bestehende Tabu, die Dinge beim
Namen zu nennen, aufzulösen. Unsere ursprüngliche Idee, im Vorfeld
einige typische Konfliktfälle zu sammeln und auf dem Workshop beispielhaft
zur Diskussion zu stellen, scheiterte an einer "Gummiwand des Schweigens";
offensichtlich hatten wir damit die Konfliktfähigkeit und -bereitschaft der Führungsmannschaft
überfordert. Wir entschieden uns daher, den Workshop
in eine milde Krise zu steuern, sodass die Teilnehmer sich entscheiden
mussten, ob sie die Probleme auf den Tisch bringen oder zu Lasten
des Geschäfts weiter "heile Welt" spielen wollten. |
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Nach der üblichen Einführung begann der ersten Nachmittag ganz
konventionell mit Arbeitsgruppen
– nur dass die Gruppen getrennt nach Standorten zusammengesetzt
waren. Jede Gruppe hatte die Aufgabe, anhand vorgegebener Leitfragen
eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Lage zu machen und den anderen
Standorten zu präsentieren. Da keine der Gruppen wusste, wie offen
die anderen Standorte die Fragen beantworten würden, war die "Krise"
da: In fast jeder Gruppe entstand eine Diskussion darüber, wie dies
selbst handhaben wollten. Die meisten entschieden sich für Offenheit
– und wurden in dieser Entscheidung später von den anderen Gruppen
bestätigt. Mit einer recht offenen Problembeschreibung endete der
erste Tag; über Nacht hatten alle Gelegenheit, sich auf die neue
Situation einzustellen. Am zweiten Tag wurde insgesamt sehr viel
offener geredet, sodass es auch gelang, zu einer Reihe konkreter
Vereinbarungen zu kommen. |
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Selbst kurze Veranstaltungen und Aktionen – selbst ein Info-Stand
oder eine Ausstellung
– haben immer ihre Dramaturgie. Und es lohnt sich, darauf ein Stück
Aufmerksamkeit zu verwenden und den Verlauf zu planen. Entscheidend
dafür ist, nicht nur auf den Sachinhalt zu schauen, sondern vor
allem darauf, welche Wirkungen bei den Adressaten erzielt und durch
welchen Ablauf dies erreicht werden soll. |
Wirkung bei den Adressaten |
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Sie denken gerade darüber nach, wie Sie die Dramaturgie eines konkreten Change-Vorhabens gestalten sollen, oder planen bereits ein entsprechendes Projekt? Oder haben eine verwandte Fragestellung, zu der Sie fachkundige Unterstützung oder eine kompetente Hintergrund-Beratung suchen? Dann sprechen Sie uns gerne an!
Link zum Kontaktformular
oder direkte Mail an w.berner(at)umsetzungsberatung.de
oder Telefon +49 / 9961 / 910044
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Wir unterstützen Sie gern!
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© 2001 Winfried Berner / letzte Aktualisierung 23.9.2017 – vollständige oder auszugsweise Wiedergabe, gleich in welcher Form, honorarpflichtig und nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung / Zitate im üblichen Umfang mit Quellenangabe gemäß wiss. Zitationsregeln zulässig. Näheres siehe Nutzungsbedingungen.
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